Donnerstag, 16. Februar 2017

Der goldene Schnitt


Nun komme ich ja aus einem kleinen Kaff. Aber auch da gab's geheimnisvolle Typen, jedenfalls geheimnisvoll genug für mich. 

Eines Tages trat einer auf den Plan, der der Geheimnisvollste von allen war. Er war bei völlig unscheinbarem Äußeren Karatelehrer und Fotograf. Fotografiert wurde damals ja endlos. Er war total gelassen, wie jeder Leistungssportler. Der niedrige Ruhepuls, schätze ich.



Wegen ihm also rannte ich (und viele andere) in die Turnhalle und übte Karate. Ich kam über diesen Entengang, bei dem wir laut ausatmen mussten und die Fäuste im Wechsel in die Luft vor uns stoßen sollten, nicht hinaus. Eine rundum peinliche Angelegenheit. Ich kam nicht mal in die Nähe des weißen Gurtes. 

So konnte ich ihn natürlich nicht für mich gewinnen. Das Rennen machte eine andere, die sich unsterblich in ihn verliebte und ihm noch Jahre nachhing, selbst als sie verheiratet war und zwei Kinder hatte, mit einem anderen, ein guter Freund von ihm und der letztlich viel beeindruckender war. Aber da hatte sie keinen Blick für.

Aber wir befreundeten uns gut und als er eines Tages nach Berlin zog, um zu studieren, war er der Grund für meinen ersten Berlin Besuch, zusammen mit dem größten Stones Fan aller Zeiten

Ich war erschüttert über die Kargheit seiner Wohnung im Wedding. Er hatte sie von einer alten Oma übernommen, möbliert, falls man das so nennen kann.


Später zog er nach Kreuzberg, Yorck- Ecke Kreuzbergstraße. Ich besuchte ihn erneut, auf der Flucht vor meinem absurd anstrengendem Liebesleben mit dem Stones Fan. Als ich so auf dem Fensterbrett saß und auf die Straße herabschaute, beschloss ich, meinen Lebensmittelpunkt nach Berlin zu verlegen. 

Das war so eine Augenblicksentscheidung. Ich plane ja nie. Ich nahm mir das Telefonbuch und suchte nach Buchhandlungen. Ich rief die mit der größten Anzeige an. Einen Tag später hatte ich einen Job und fuhr zitternd zurück ins Kaff, mich fragend, was mich da nur geritten hat. 

Ich war ja zufrieden im Kaff. Die reinste Drogenhölle, durch die ich stocknüchtern tapste, frei von Gruppenzwang. Wenn da nicht die leidige Sache mit den ewigen Rache-Affairen gewesen wäre, mit denen ich meinerseits versuchte, das kalte Herz des Stones Fan zu ermorden. Das war viel zu anstrengend für mich und man muss ja immer bedenken, dass ich mein Leid nicht im Suff ertränken konnte. Kreislaufprobleme brauchte ich nicht auch noch. 

Nach cirka einem Jahr zog er zurück ins Kaff, wir waren alle erstaunt. Er zog zu seinen Eltern, in sein altes Kinderzimmer. Wir begriffen es nicht. Er machte jetzt in Kunst. Malte wie besessen. Der Hobbykeller im Elternhaus wurde seine Wirkungsstätte. Seine Coolness litt doch ein wenig darunter. 

Auf Heimatbesuchen sah ich ihn noch sporadisch; er hielt Hof im Hause seiner gebeutelten Eltern, die sich bestimmt anderes für ihren Kronensohn gewünscht hatten. Sie machten immer einen bescheidenen und zutiefst unglücklichen Eindruck, wohl weil sie wussten, dass sie ihn niemals loswerden würden. Ihnen war er fremd, der Künstlersohn, der im Keller werkelte. Wir wussten auch nicht, wovon er lebte. Sein Studium hatte er abgebrochen, ab und an gab er Karate-Unterricht; inzwischen für Kinder. Wahrscheinlich bekam er Taschengeld.

Ich verlor ihn aus den Augen. Gestern schrieb er mich über ein Soziales Netzwerk an. Nach zig Jahren. Ein Satz nur, er erinnere sich gerade an seine Schulzeit, viele Grüße. Dabei bin ich nie mit ihm zur Schule gegangen.

1 Kommentar:

  1. Langsam wirst Du mir unheimlich ;-) Auch bei mir zog eine Jugendliebe nach Berlin, ich besuchte ihn, jetzt lebe ich hier und er ist zurück ins Dorf

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