Abseits dessen ist es gelebte Familientradition, dass man auf keinen Fall Nachricht bekommt, um "niemanden zu beunruhigen". Und so habe ich einige meiner Altvorderen um Stunden oder Tage verpasst; es wäre noch Zeit gewesen, sich schnell ins Auto zu setzen, aber andere entschieden, die innerfamiliäre Tradition nicht zu brechen. Schon einige Male war ich weiß vor Wut, dass mir diese Entscheidung abgenommen wurde.
Anyway, ich wusste also immer, der Tag wird kommen und vorher werde ich ihn nicht mehr sehen, weil schon immer alles recht schwierig war mit ihm und im letzten Jahr um diese Zeit ein Telefonat der Schlusspunkt war (obwohl ich mich lange nicht entscheiden konnte, ob das nun eine beginnende Demenz gewesen ist oder doch nur altersbedingte Unlust, aus seinem Herzen weiterhin eine Mördergrube zu machen).
Aber wie reagiert man, wenn ein Anruf kommt, der von einem äußerst dramatisch auftretenden Krankheitsgeschehen berichtet; nicht von ihm selbst natürlich, denn - ganz alte Schule - hatte er eine Nachrichtensperre verhängt.
Die hat er nun aufgehoben und ich erfuhr aus informierten Kreisen, dass er in den letzten Wochen einen Leidensweg hinter sich gebracht hat, den vorzustellen mir das Herz bricht - vor allem deshalb, weil er so nüchtern wie mitleidlos mit sich selbst darauf bestand, das allein mit seiner Frau durchzustehen. Offenbar war er aber überzeugt, dass es ihm wieder besser gehen würde, der Tag also kommen wird, an dem er das Informationsverbot höchstpersönlich wieder aufhebt - was dann auch wieder typisch für ihn ist.
Ich brauchte über eine Woche zur Entscheidungsfindung: nehme ich Kontakt auf oder nicht? Wieviel Zeit bleibt mir noch? Und wie wird er reagieren? Tu ich das für mich oder für ihn? Sollte ich nicht einfach aufgeben, loslassen, akzeptieren, kapitulieren? Kapieren, dass es manchmal keine Antworten gibt und auch keinen Abschied?
Am Ende stellte ich mir nur noch eine Frage. Wie werde ich damit klarkommen, wenn es zu spät ist und ich keinen Versuch gemacht habe, ihn zu sprechen?
Ich rief ihn an, ängstlich, was mich erwarten würde.
Er hat sich echt gefreut und nun höre ich die Geschichte aus seinem Mund. Mein ewig berufsjugendlicher Vater, der auch mit knapp 80 keinen Tag älter als 65 aussieht, auf seine alten Tage behinderten Kindern das Schwimmen beibringt (während er uns seinerzeit ins Wasser geschmissen hat, weil er davon ausging, dass wir schon nicht untergehen würden) und noch im Sommer meiner Nichte vorführte, wie man mit Köpper ins Wasser springt und das gesamte Becken durchtaucht (obwohl es ihm schon reichlich dreckig gegangen sein muss), dieser unverwüstliche und von jeglicher Selbstreflektion, Reue und Schuldgefühlen befreite Mann hat nun drei Bypässe und eine neue Aortenklappe.
Er ist ganz plötzlich herzkrank geworden. Sozusagen ein Zufallsbefund, denn er lag auf dem OP Tisch wegen einer anderen Sache, als sein Herz ernstlich schlappmachte, genauer gesagt, den Dienst einstellte. Und dann ging die Scheiße erst richtig los.
Er wollte nach dem aufwachen gleich nach Hause, klar, aber das konnten sie ihm ausreden. Der Kardiologe sagte, er muss in spätestens vier Stunden operiert werden, die ihn aufpäppelnden Ärzte sagten, frühestens in vier Wochen. Man einigte sich auf acht Tage. Er hat's überstanden.
Unkraut vergeht nicht, sagte er mir. Da hätte ich gerne ein bisschen mehr von ihm.