Montag, 27. April 2020

In der siebten Woche

Inzwischen habe ich mich an mein ungeschminktes Gesicht so gewöhnt, dass ich es draußen ganz ungeniert zur Schau trage. Nicht im Sinne: "Is ja ooch allet egal" sondern auf die selbstliebende Art und Weise "So schlimm isses doch ga nich". Als eine meiner besseren Entscheidungen hat sich erwiesen, dass ich bei meinen gestrengen asiatischen Nagelkünstlerinnen nicht mal mehr "vonne wei" habe auftragen lassen, sondern schon seit Monaten auf Klarlack umgestiegen bin. Bei den Abstandsregeln sehe nur ich, dass die Nägel nur noch zu zweidrittel mit durchsichtigem Gel bedeckt sind. Das weißhaarige Großmütterlein allerdings, das schon in mir lauert, u.a. in Form von grauen Haaren, darf noch nicht raus. 

Nachdem ich heute in der FAZ gelesen habe "Und wie aus dem Nichts ein Schlaganfall" - einen Artikel über alles, was Corona in unseren Körpern anrichtet, wenn es sich für einen schweren Verlauf entschieden hat, ist mir kotzschlecht vor Angst geworden und da sind natürlich die oben beschriebenen äußeren Begleiterscheinungen des lockdowns ein Witz und nicht der Rede wert; wenn nicht sträflich gar, sie überhaupt zu erwähnen. 

Ich schlafe viel, ich esse viel, vor allem Flips. Der ADHS-Leihhund sorgt zwar für ausreichend Bewegung, aber als ich am Wochenende heimlich aufs Land gefahren bin, habe ich einen anstrengenden Spaziergang durch die Märkische Schweiz schon nicht mehr ganz so leichtfüßig hingelegt wie noch im letzten Jahr

Um ehrlich zu sein, habe ich mir die Hundeleine um den Bauch gebunden und habe mich vom Hund ziehen lassen. Das ist zwar eigentlich eine schlimme Unart von ihm, aber in diesem Fall war es meine Rettung. Denn meine Begleitung, von der ich mir eine "leichte" Wanderung ohne Berge gewünscht hatte, meinte "Hier gibt es doch gar keine Berge" und dass ich mich nicht so haben soll. Ich schnaufte zwei Stunden bergauf, bergab, habe aber letztlich überlebt. 

Bleibt alle schön gesund, da draußen.







Dienstag, 14. April 2020

Nachrichten aus dem Home Office

Zuerst dachte ich, ich lass das mal alles auf mich wirken.




Wie zum Beispiel jede Menge verrückte Frauen sichtbar wurden. Alte Frauen, die mich (mit Maske) auf der Straße anschrien, im Vorbeigehen, "Es gibt keinen Virus!", soso, dachte ich, hoffentlich hast du Recht. Verwirrte Frauen, die in der Bank (übermäßig dramatisch geschminkt, junge-Mädchen-Frisuren tragend) nicht in der Lage waren, eine Überweisung auszufüllen, jeden und jede ansprachen "Können SIE mir helfen?", gefährlich nah und ohne jede Rücksicht alles kontaminierten, was es halt in einer Bank anzufassen gibt - diese ältlichen Frauen also mit weit auf gerissenen Augen, verpeilt durch die Straßen schwankend - die gab es plötzlich zuhauf. Wo kommen die nur alle her, frage ich mich. 

Dann gab es plötzlich in meinem kleinen Wäldchen Völkerwanderungen, gibt es bis heute. Verstehe ich, ich rette mich ja auch täglich in die grün explodierende Zwitscherbude. Habe mir den Leihhund geholt, für eine ganze Woche war er bei mir, bei jedem Videocall lag er neben mir auf dem Boden, eine Weile, um dann den Versuch zu starten, irgendwie auf meinen Schoß zu kommen, dabei ist er viel zu groß und schwer und ich bin dafür wenig zu haben, wie ich feststellen musste. Nach 4 Tagen nannte ich ihn nicht mehr Leihhund, sondern Stalker und das meine ich nicht mal scherzhaft. Stalker mit ADHS Syndrom, denn er kommt nie zur Ruhe, außer er darf neben mir auf dem Sofa liegen.

Wie gerne wäre ich mit Martin Rüther befreundet, den hätte ich gerne mal gefragt, was es damit auf sich hat und wahrscheinlich hätte er mir klar gemacht, dass es ganz allein an mir liegt weil ich irgendetwas grundfalsch mache - wenn ich nur wüsste, was? 




Ich überlege seitdem nur noch halbherzig, dass jetzt eine günstige Zeit wäre, mir selber einen kleinen Welpen zuzulegen; nie wieder hätte man die Gelegenheit, in aller Ruhe einen kleinen Hund stubenrein zu bekommen, erste Erziehungsversche zu starten und ihn langsam daran zu gewöhnen, auch mal allein zuhaus zu bleiben. Aber wenn das dann auch so ein ADHS-Stalker wird, hätte ich den immer an der Backe.

Nach Corona werde ich sowieso viel öfter im Home Office bleiben - nicht weil ich das so schätze, sondern vor allem, weil das die Arbeitgeber zu schätzen gelernt haben werden. Ich selber finde HO inzwischen richtig doof und an manchen Tagen schleiche ich mich in meine Firma, die einem Geisterhaus ähnelt und erfreue mich an meinen beiden riesigen Bildschirmen und dem rückenschonenden Bürostuhl - die reinsten Glücksmomente sind das.Wer hatte das vor sechs Wochen geahnt? Da habe ich mir einen HO-Tag immer als Geschenk an mich gegönnt.

Was noch? Ich kann keine Nachrichten mehr ertragen. Ich bin mit Verdrängen beschäftigt und lese lieber gefühlige Abhandlungen zum Thema in ZEIT, SZ und FAS. Alles, was mit Zahlen, Fakten, Krankheitsverläüfen, etc. zu tun hat, wird ignoriert, denn all dieses Wissen setzt sich auf meiner ansonsten schon löcherigen Festplatte bombensicher fest und sollte ich dann doch erkranken, wüsste ich in einer Hundertstelsekunde alles, was mich nun erwarten könnte und in meiner kleinen hypochondrischen Welt wäre sofort ausgemachte Sache, dass ich sowohl spätestens als auch mindestens an der Intubation krepieren werde. Nein, Gedankenstopp, nichts ausmalen, die Energie folgt der Aufmerksamkeit. 

Was ich nun nie vergessen werde, ist dieses gleißend helle Licht, das seit dem Lock down jeden Tag scheint. Ich nenne das "Dallas-Himmel", weil mir schon damals beim Dallas-gucken bei Außenaufnahmen immer dieser grellblaue, wolkenlose Himmel aufgefallen ist mit extrem kalten Sonnenlicht und so ist das seit Mitte März auch über Berlin. Schon schön, diese Helligkeit, ich will mich nicht beschweren, es könnte für meinen Geschmack nur etwas weniger gleißend sein. Trifft man draußen jemanden, sieht man auch aus 2 Metern Mindestabstand jede Pore und Schlimmeres; es ist ein erbarmungsloses Licht.

Da ich keine Nachrichten mehr sehe, schaue ich Netflix. Netflix ist gar nicht so toll. Es ist selten mal wirklich Gutes dabei. Zwei Wochen habe ich alle Folgen von Mad Men noch mal geschaut, aus lauter Alternativlosigjkeit. Modisch bin ich seit jeher in die 60er Jahre verliebt; Anfang 70er geht auch noch. Bis auf Joan Harris, die Godmother aller Sekretärinnen, ist das Personal doch eher kotzbrockig angelegt, also musste ich mich auf die Kleider konzentrieren. 

Ja, und ich koche natürlich jeden Tag. Überhaupt esse ich sehr viel. Und ich muss viel putzen und aufräumen. Man schmutzt und flust die Wohnung ganz schön voll, wenn man 24/7 daheim ist. Meine Wohnung weiß gar nicht, wie ihr geschieht. Endlich wohne ich mal meine Miete richtig ab. Meinem Vermieter schrob ich einen freundlichen Brief, ob ich wohl während der Ausgangssperre wieder in den Garten darf, aber er antwortete, das sei "leider" nicht möglich und ich muss gestehen, da habe ich ihn verflucht. Ich möchte hier nicht in Einzelheiten gehen, aber eine Welle von ungeheurem Hass schwappte so über mich, dass ich nicht anders konnte. 

Eine zweite Hasswelle schwemmte mich beinah auf den Ozean, als ich hörte, wie ReWe, Aldi und Lidl ihre Kassiererinnen für die Mehrbelastung zu entlohnen gedenken: zwischen 100-250 Euro Essensgutscheine, also die Möglichkeit, für 100 -250 €uro im eigenen Laden einkaufen zu dürfen. Da wollte ich eine Weltrevolution vom Zaune brechen und jeder Kassiererin zurufen: Bleibt zuhause, lasst euch krankschreiben, dann können eure Bosse die sagenhaften Gewinne zur Abwechslung mal selber erwirtschaften! Ich war schon lange nicht mehr so sauer.

Ostern habe ich das Kontaktverbot gebrochen. Zu dritt auf einer großen Terasse bei 23 Grad - es war Verheißung und Erinnerung zugleich. Früher war das ganz normal und heute wissen wir nicht, wann wir jemals wieder diese Unbeschwertheit haben werden. 

Hier was Saugutes von Sybille Berg: Bankrotterklärung

Zum Schluss noch ein Hinweis auf diese Website
Mehr darüber zu lesen drüben bei Frau Nessy