Neulich sitze ich der Sonne zugewandt, mit geschlossenen Augen, in einem Café im Süden der Republik von Berlin. Manchmal blinzle ich, wenn Menschen sehr nah an meinem Tisch vorbeilaufen. Geht mir aus der Sonne, denke ich jedes Mal.
Es läuft eine Gruppe schlecht gekleideter Leute an mir vorbei. Alle in Trainingsanzügen, mit albernen Oberlippenbärtchen, Vokuhila, blousonartigen Jacken und Schnellfi*erhosen. Ich schließe die Augen schnell wieder, habe ein unbestimmtes 80er-Jahre-Deja vu und fühle mich unangenehm berührt, zumal die sich auch noch direkt an den Nachbartisch setzen. Mit solchen Leuten wollte ich schon in meiner Jugend nüschte zu tun haben - weshalb sind die jetzt hier, in der Gegenwart, im schnarchigen Dahlem?
Dann beginnt am Nebentisch ein gepflegtes Gespräch über Pro-Seminare an der FU und mir dämmert, dass es sich hier nicht um Prekariat aus Neukölln handelt, sondern um eine weitere Hipster-Variante, die sich entgegen ihres gewissermaßen martialischen Kleidungsstils gepflegt, sanft und respektvoll miteinander unterhält.
Ich hör mir das eine Weile an und dann schreite ich zur Tat. Von meiner Mutter ist mir in die Wiege gelegt worden, wildfremde Menschen anzusprechen und sie mit meiner Meinung und/oder Fragen zu behelligen.
"Sagt einmal, darf ich euch etwas fragen, aber ihr nehmt es mir bitte nicht übel?"
"Na klar" schallt es mir gutmütig entgegen.
"Tja, also wisst ihr, ich war ja jung in den Achtzigern und da sahen auch ein paar Leute so aus wie ihr heute, aber die fanden wir nicht gut. Das war so eine bestimmte Klientel und die waren nirgends immatrikuliert, könnt ihr mir glauben. Wie kommt's, dass Ballonseide so einen Lauf hat? Und du, du hast ja sogar eine ziemlich schlimme Frisur, Vokuhila, wenn ich das so sagen darf."
"Ja", lacht er, "Toll oder? Ich habe haargenau dieselbe Frisur wie mein Vater in den Achtzigern. Und die Klamotten sind nur geil. Saubequem. Ich wünschte, er hätte mehr davon aufgehoben."
Der andere: "Du wirst doch nicht von meiner Jacke auf den ganzen Mann schließen? Mir war heute danach..." und hebt zu einem längeren Vortrag an, der selbst Karl Lagerfelds Haltung zur Jogginghose hätte verändern können.
Das Mädchen, immerhin in einem Adidas-Anzug, ungekämmt, ungeschminkt und so zauberhaft, wie es eben nur junge Frauen sein können, hört den begeisterten Modestatements ihrer Begleiter gutmütig zu und exponiert sich nicht weiter.
Da ist also nicht Mut zur Hässlichkeit oder Nachlässigkeit in Kleiderfragen zu betrachten, sondern ein ausgeklügeltes Modekonzept, über das viel nachgedacht wurde. Nachdem mir nun klar ist, dass ich hier echter Streetware begegnet bin, Generation X oder Y oder Z oder was weiß ich denn (da waren sich dir drei selber nicht ganz im klaren), wechsle ich übergangslos in den Tanten-Modus, fasele etwas von "Ihr habt noch alles vor euch und falls ihr euch mal langweilt oder Herzschmerz habt, denkt immer daran: ihr seit noch blutjung und habt noch wirklich alles vor euch. Ihr wisst das heute noch nicht, aber ich weiß es."
Dem Mädchen rate ich, sich von Ar*löchern immer schnell zu trennen und das bringt einen der Jungs dazu, sich als ihr Freund zu outen, er sei "momentan" sehr bemüht, sich nicht wie ein Ar*h zu verhalten. Sie und ich prusten los "Mo-men-Taaan???"
Sie lassen sich nicht anmerken, ob sie mich für übergeschnappt halten oder sich daran freuen, dass sie so heiß beneidet werden - sie sind jedenfalls durch die Bank freundlich und milde und ich darf sie sogar fotografieren, für diesen Blog ("Kannst gerne mein Gesicht zeigen!"), weil ich sie wirklich in jeder Hinsicht bemerkenswert finde.
Wenn's noch mehr von ihnen geben sollte, dann ist mir nicht bange. Es gibt auch ganz tolle Leute mit der Frisur von Rudi Völler. Ich kann das bestätigen.