Dienstag, 3. Mai 2016

Als Hypochonder beim Zahnarzt


Heute beim Zahnarzt, herrje. Auf dem Weg hypnotisiere ich mich selbst, um die kleine Spritze, die mir droht, als das zu sehen, was sie ist: schmerzverhindernd, eine Wohltat der Schulmedizin, etwas, das mir gut tut. 

Aber ich kann mich nicht überlisten. Ich betrete die Praxis und bekomme Malaria. Ich liege auf dem Stuhl, warte auf den Arzt, schau an die Decke und überlege, nochmal aufzustehen, um ein Foto vom Deckenbild zu knipsen, wie neulich Tikerscherk. Ich seh auf einen Strand, der hilft mir aber auch nicht weiter, denn wer weiß, ob ich nicht doch umkippe von der Spritze und dann weiß der Arzt nicht, was er machen soll und ruft den Rettungshubschrauber, der irgendwie auf der Bergmannstraße landen muss, das dauert natürlich seine Zeit, bis dahin falle ich ins Koma und wache als Gemüse auf. 

Dann rufe ich mich zur Ordnung und verbiete mir das denken. Ich denke trotzdem ununterbrochen weiter. Im Hintergrund läuft gerade das hier. Ha ha, sehr witzig. Der Radio-Gott hat'nen Clown gefrühstückt, neulich in der Oper habe ich das live gehört und war entzückt. Aber hier kann das nur ein schlechtes Omen sein.

Der Arzt kommt. Er ist gütig, liebenswürdig und weiß Bescheid. Er geht vorsichtig zu Werke, er macht alles richtig, was ein Arzt richtig machen kann, wenn er eine übergeschnappte Neurotikerin vor sich hat. Mir dreht sich trotzdem der Magen um. Nachdem die Betäubung gesetzt ist und ich wider Erwarten nicht kollabiert bin, entspanne ich mich augenblicklich. 

"Ich bin in drei Minuten wieder da", sagt er. Ein guter Moment, ein Nickerchen zu halten, jetzt, wo alles gut und der Rest ein Klacks ist. Aber seine Helferin bleibt im Raum und will reden. Sie steht links hinter mir und ich bin gezwungen, mich zu ihr umzudrehen. Meine ganze schöne Entspannung kann sich gar nicht ausbreiten, weil ich ganz verrenkt auf diesem Stuhl liege. Ich fühle mich verpflichtet, eben hat sie mir noch die Hand gehalten und in case of hätte sie die Straße geräumt für den Hubschrauber. Die kann ich jetzt nicht einfach so ignorieren. 

Sie redet nicht übers Wetter, sondern will alles über mich wissen, die ganze Wahrheit. Woher meine Angst kommt, ob ich genug gegessen habe, und getrunken, das sei wichtig, manche kommen und haben nichts gegessen und dann kippen die um, ich soll also immer genügend essen und ich denke, ist sie blind? Dass ich genügend esse, ist unübersehbar, viel besser wäre, ich würde nichts mehr essen, bis ich zehn Kilo abgenommen habe, weil, egal, wieviel ich wiege, ich will immer zehn Kilo abnehmen, aber das geht sie nun wirklich nichts an.

Am Essen hapert's also nicht, jetzt will sie wissen, ob ich Stress habe. Ja, allerdings, weil ich zur Unzeit in Gespräche verwickelt werde, mir wird ganz schwindelig von dieser verrenkten Haltung und ganz kurz denke ich, ob ich jetzt doch noch einen anaphylaktischen Schock kriege, verzögert zwar, aber auch das soll's geben. 

Sie rätselt weiter, verirrt sich in den Tiefen meiner armen Seele. Ich lass mich aber von Fremden prinzipiell nicht ergründen, wo kämen wir hin? Wenn sie vor der Spritze gekommen wäre, wäre ich offen für ein Gespräch unter Hobbypsychologen gewesen, aber jetzt, wo ich Ruhe und Gelassenheit verströme, eins mit mir und der Welt bin - weshalb redet sie sich nur in so einen Rausch? 

Ich kann die Rückkehr des Arztes kaum erwarten, noch eine Minute und ich erleide einen ernsthaften Rückenschaden, und dann muss Tamme Hanken kommen, um mich wieder einzurenken; von der Re-Traumatisierung ganz zu schweigen, sie lässt nicht locker, obwohl ich keine verwertbaren Anknüpfungspunkte gebe für ein gedeihliches Anamnese-Gespräch; ich bin eine Sphinx und halte mich demonstrativ bedeckt. 

Meine Einsilbigkeit erfüllt sie mit Sorge, sie bietet mir ein Glas Wasser an. Sehe ich aus, als bräuchte ich ein Glas Wasser? Ihr Redefluss wird erst gestoppt, als der Arzt zurück kommt. 

Ich fürchte, in meiner Krankenakte ist irgendwas vermerkt, was sie in den falschen Hals bekommen hat.

17 Kommentare:

  1. Ich muss sehr lachen, sorry :)
    Aber übrigens: Normalerweise schaue ich den Leuten ja auch ins Gesicht, wenn ich mit ihnen oder sie mit mir reden. Beim Zahnarzt aber mache ich da generell eine Ausnahme. Wer will schon Hals und Rücken?
    Wenn die hinter mir stehen und trotzdem reden wollen, schlage ich genüßlich die Beine übereinander, falte die Hände entspannt auf dem Bauch und lasse die Unterhaltung plätschern, während ich den Stuck an der Decke betrachte. Mir doch egal, ob sie was Falsches denken.
    Man quatscht ja Leute nun einfach mal nicht von hinten an.

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    1. Aber sie hatte mir doch die Hand gehalten, als es ums ganze ging. In der Stunde der Not.

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    2. So ist es auch von mir praktiziert und da tut es auch garnichts zur Sache, ob man die Hand gehalten kriegt oder (wie angenehmst in schlimmer Situation erlebt) den Kopf tief beruhigt am Busen der Stuhlassistentin gelagert fühlt.

      Z.

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    3. So so, der Busen hat seine Schuldigkeit getan, der Busen kann gehen

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  2. Bei deinem Zahnarzt läuft Ballett?! Ernsthaft?
    Du Glückspilz, das ist einer von den Guten! Aber den ganz Guten!
    Bei meinem läuft Löwenzahn in Endlosschleife. Du weißt schon: Peter Lustig.
    Und mit dem Gequassel halte ich es wie Helma: wer was von mir will, soll sich gefälligst face to face hinstellen.

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    1. Nee, da läuft Radio. Er ist trotzdem der Beste.

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  3. Ich glaube, dass ein Mord im Affekt reichlich mildernde Umstände rechtfertigen würde. Eine Hypochonderin im Zahnarztstuhl gilt sicher als nicht zurechnungsfähig, wenn sie eine geschwätzige Arzthelferin mit der Metallkordel des "Lätzchens" zum Schweigen bringt ...

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    1. Für ein Kapitalverbrechen war ich nicht in der richtigen Stimmung

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  4. Wir Hypochonder müssen zusammenhalten, -danke für´s Verlinken!

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  5. Ich gehe nur noch zu einer Freundin von mir, die glücklicherweise irgendwann, als wir uns kennenlernten, Zahnmedizin studierte. Ich bekomme soviele Spritzen wie ich will und ich brauche immer ganz viele.
    Als sie letztens, und das ist sie leider oft, im Urlaub war und ich eine Woche Zahnschmerzen hatte, sagte sie danach zu mir, dass ich doch auch zu ihrer Kollegin hätte gehen können. Haha. Zu ihrer Kollegin.

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    1. Leider habe ich keine Zahnarzt-Freundin. Aber eine Freundin ist mit einem Zahnarzt befreundet und zu dem gehe ich jetzt auch, Der ist furchtbar lieb zu mir, weil er sich nicht von meiner Freundin blamieren will.

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    2. VOR meiner Freundin - sollte es heißen

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  6. Du Ärmste, ich vermeide beim Zahnarzt generell Unterhaltungen. Schon gar nicht rede ich mit den Zahnarzthelferinnen, denen ich von Hause aus einen Hang zum Sadismus unterstelle, sonst würden sie ja nicht tun, was sie tun (fremden Menschen die Zähne reinigen, mit sehr geräuschvollen Geräten und mich als hilflosem Opfer das jede Minute fürchtet, dass sie mit dem Gerät abrutscht und mir eine Schneise ins Zahnfleisch schneidet.....

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