Wir stehen an ihrem Grab.
"Ob noch was von ihr übrig ist?"
"Nee, nicht mehr nach dieser Zeit. Nur Knochen."
Unvorstellbar. Dabei wollten wir beide mit 90 aus Eifersucht im Bett erschlagen werden. Das war unser Ziel und unsere Beruhigung. Wir waren beide Hypochonder und wenn eine von uns die andere anrief "Ich glaube, ich hab'nen Schlaganfall." sagte die andere "Sei nicht hysterisch, sonst hau ich dir auf's Maul." Wir pflegten einen saloppen Umgang mit unseren Grillen.
Als ich mir spektakulär das Handgelenk brach, weil ich dachte, Schlittschuhlaufen verlernt man nicht, durften mich die Ärzte erst in Narkose versetzen, als sie in die Notaufnahme gehetzt kam.
Nach einer Trennung, am Umzugstag, saßen wir kaputt in meiner neuen Wohnung und als alle gingen, sagte sie "Du kommst jetzt mit zu uns, nimmst ein Bad und schläfst dich erstmal aus." Sie war eine patente Seemannsbraut und tat oft das Richtige zur richtigen Zeit.
Weil sie nicht Fahrstuhl fahren konnte, bin ich mal mit ihr zu einem Termin in den 11. Stock des Steglitzer Kreisel gelaufen. Also weißt du, japste ich, du kannst in ein Flugzeug steigen und 10 Stunden drin bleiben, aber keine 30 Sekunden im Fahrstuhl aushalten. "Das ist doch was völlig anderes!"
Wir schauten alle Adelshochzeiten, mit Taschentüchern bewaffnet, aber bei 9/11 sagte sie kühl "Was soll das Gejaule? Im Afrika sterben jede Woche 3000 Menschen, da kräht kein Hahn nach."
Sie machte den besten Kartoffelsalat der Welt. Sie wollte eigentlich immer "Mittach essen" und kam an keiner Würstchenbude vorbei. Ihr Mann meinte, sie verplempert das Familienvermögen an Pommesbuden.
Ihr Tamagotchi hatte die weltlängste Lebenszeit und als es doch verstarb, war sie untröstlich. Ich hielt sie für bekloppt.
In ihren Vierzigern rief sie "Titten auf den Tisch" und zog sich bis auf den BH aus, wenn wir Skipbo spielten, wegen aufsteigender Hitze. "Bald ist's Zeit für Tena Lady, führt kein Weg dran vorbei." Sie hatte überhaupt keine Angst vor dem Altwerden. Dinge, die man nicht ändern kann, nahm sie pragmatisch.
Es war nicht immer einfach mit ihr. Sie liebte mich entweder überschwänglich oder gar nicht - zwischen beidem wechselte sie ohne äußere Anlässe hin und her. Mir wurde das eines Tages zuviel und wir entzweiten uns.
Wir sahen uns vier Jahre nicht. Dann trafen wir uns auf einem Fest wieder und nahmen wieder vorsichtig Kontakt auf. Es wurde nie wieder so eng wie früher, aber wir feierten Geburtstage zusammen, grillten, Spieleabende und all dieses Zeug.
An Silvester vor 5 Jahren rauchten wir auf dem Balkon und sie erzählte, dass sie seit Tagen nicht aufs Klo kann, das sei ja vielleicht bekloppt. Am nächsten Tag Notaufnahme, OP, bösartig, aber im Sommer sahen wir die Hochzeit von William und Kate. Alle dachten, jetzt sei es gut. Das blieb es nicht und mir brach das Herz.
Sie ließ bis auf ganz wenige Menschen niemanden zu sich und dann ging es ganz schnell. Ich begriff das nicht. Nie wieder? Wir waren über 15 Jahre die engsten Freundinnen, selbst unser Zerwürfnis änderte nichts daran, dass sie einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben war.
Bei der Beerdigung platzte die große Trauerhalle aus allen Nähten, bis draußen standen sie. Sie war eine Vielgeliebte, trotz oder auch wegen ihrer zeitweiligen Ruppigkeit.
Heute trommelte uns ihr Mann zusammen, wir trafen uns in einem Café gegenüber des Friedhofs. Später spazierten wir zu ihr hin. Ich finde, sie hat einen 1 A Platz. Idyllisch, im Sommer hat sie Schatten, eine Bank direkt in der Nähe.
"Und der Sarg? Ist der noch da?"
"Nee, das Gewicht der Erde, alles platt."
"Auch das Adelsblättchen, dass wir ihr ins Grab geworfen haben?"
"Das war die GALA."
"Alles weg."
Beim gehen streichen wir kurz über den Grabstein.
"Tschüss, wo immer du bist."
Ach...
AntwortenLöschenja...
LöschenMein Beileid. Die Geschichte schmerzt sogar, wenn man sie nicht kannte, sehr berührend, danke und fühl dich virtuell gedrückt
AntwortenLöschenIch drück Dich auch, liebe Annika.
AntwortenLöschenScheißtod.
Wem sagste das...
Löschen"Wie wenn das Leben wär nichts andres
AntwortenLöschenAls das Verbrennen eines Lichts!
Verloren geht kein einzig Teilchen,
Jedoch wir selber gehn ins Nichts!
Denn was wir Leib und Seele nennen,
So fest in eins gestaltet kaum,
Es löst sich auf in Tausendteilchen
Und wimmelt durch den öden Raum.
Es waltet stets dasselbe Leben,
Natur geht ihren ew'gen Lauf;
In tausend neuerschaffnen Wesen
Stehn diese tausend Teilchen auf.
Das Wesen aber ist verloren,
Das nur durch ihren Bund bestand,
Wenn nicht der Zufall die verstäubten
Aufs neu zu einem Sein verband."
Theodor Storm
Der alte Storm, ein Physiker...
LöschenSehr schön zusammengefasst, das Dilemma
Ich glaube das ist der schönste Nachruf den ich je gelesen habe. Noch viel bewegender als jener bei "Drei Hochzeiten und ein Todesfall" denn Deiner ist wirklich wirklich in Alllem echt!
AntwortenLöschenOh, ein großes Lob, vielen Dank dafür.
Löschenwer immer nur mittach essen will, kann nur in ordnung gewesen sein.
AntwortenLöschenDas war sie!
LöschenAn ihrem Kühlschrank hing eine Karte mit dem Text: "Frauen wollen immer nur das Eine: 1 a Riesenbockwürste". Sie meinte das wörtlich.