Mittwoch, 8. Februar 2017

Nachruf: "Solange mich das liebe Gottchen lässt"

Mitten in einer Besprechung bekomme ich einen Anruf. Seine Tochter.

Ich muss dir was sagen. 

Sag's mir später, ich kann gerade nicht, rufe ich in den Hörer. Dann stutze ich. 

Du hast mich noch nie angerufen. Dann weiß ich, was du mir sagen willst.

Ja, sagt sie, das liebe Gottchen lässt ihn nicht mehr.

Wir atmen beide tief aus. 

Er ist während der Arbeit auf seinem Schreibtischstuhl gestorben. Er wurde 88 Jahre alt, Zeit seines Lebens am liebsten im Büro. Dabei haben ihn alle immer nur für den Hausmeister gehalten, weil er so bescheiden aufgetreten ist und ebenso gekleidet war. 

Es konnte ja keiner ahnen, dass er mal in den 60ern fünf teure Anzüge der selben Marke gekauft hat und dachte, die müssen halten. So sparsam er mit sich selbst war, so großzügig war er zu seinen Mitarbeitern. Machte er Gewinne, bekamen wir Zulagen, so einfach war das.

Als ich mal sein Auto geschrottet habe, weil ich an der Schranke nicht vorbei kam, hat er das mit Teppichklebeband "repariert". 

Im Jahr hat er höchstens drei Tage Urlaub gemacht, in der Lüneburger Heide. Mensch, sagten wir, Sie lassen's wieder krachen. Seine wahre Liebe galt seinem Schäferhund, neben seinen Affairen mit diversen Damen, die keine-Ahnung-was an ihm gefunden haben.

Wenn Inventur war, lief er zur Mittagszeit durch das ganze Haus und blies ins Horn, um anzukündigen, dass der Gummi-Adler eingetroffen ist. Dazu gab es Weißbrot mit Butter bestrichen. Danach qualmte es wieder zwischen allen Regalen, denn es wurde noch geraucht, mitten im Laden, das waren Zeiten. 

Wenn die Verlagsvertreter zur Frühjahrs- und Herbstreise kamen, endete das täglich in Besäufnissen; kein Wunder, die verdienten sich dumm und dämlich an uns und waren immer bester Laune. Es war die Zeit der Techtel-Mechtel. Die hatten noch richtig Spaß bei der Arbeit. Perfekte Work-Life-Balance. 

Als eines Tages ein kambodschanischer Architekturstudent bei uns anheuerte, war das Liebe auf den ersten Blick. Nach und nach arbeiteten fast alle Familienmitglieder bei uns und da sie alle denselben Nachnamen trugen, numerierten wir sie der Einfachheit halber durch. Sie waren die liebsten Kollegen, die man sich wünschen konnte. Nr. 1 ist bis heute treu an seiner Seite geblieben, es ist schon seit langem ein Betreuungsverhältnis mit Familienanschluss geworden. Er ist Vater für Nr. 1 geworden und Großvater für dessen Kinder und hat kein Neujahrsfest verpasst.

Zum 90 jährigen Betriebsjubiläum zeigte er uns abends Filme von den Straßenschlachten, die in den 70er Jahren rund um den Ernst-Reuter-Platz entbrannten. Damals - wie er uns erzählte - überwand er widerwillig seine Sparsamkeit und schloss dann doch eine Glasbruchversicherung für die teuren, rundgebogenen Fenster im heute denkmalgeschützten Stammhaus in der Hardenbergstraße. 

Einmal wurde er überfallen und die ganze Nacht über sperrten sie ihn in den Keller. Ein SEK-Polizist schoss sich versehentlich in den Fuß und ein paar Tage war er auf allen Titelseiten. Er freute sich über die kostenlose Werbung und schien unbeschadet von der Aufregung. 

Als er mal einen Fotografen anheuerte, der ein Foto von uns allen vor dem Geschäft machen sollte, standen ca. 200 Menschen zusammengedrängelt. In der ersten Reihe ganz prominent unsere vier Putzfrauen in Kittelschürzen; es wäre ihm nie eingefallen, sie an den Bildrand oder in die hintere Reihe zu bitten.

Das Hundertjährige haben wir gerade noch so erlebt, danach kam eine Unternehmensberatung und legte alles gründlich in Schutt und Asche. Er wurde entmachtet und auf der nächsten Personalversammlung stand ein Mitarbeiter auf und hielt eine flammende Rede auf ihn, dass er "für immer" der Chef sein würde, egal, da können die Herren beschließen, was sie wollen. Tobender Applaus und Standing Ovations. 

Nach der Schließung hat er das Haus nie wieder betreten, auch wenn seine neue Wirkungsstätte nur 200 Meter entfernt lag. 

Er belieferte weiterhin seine Stammkunden, die mitfühlend ein paar Aufträge für ihn reservierten. Fast blind und taub karriolte er durch Berlin, später kutschierte ihn sicherheitshalber Nr. 1 und gegen den Hunger hatte er immer eine Tube Sardellenpaste dabei. Er brachte stets Kekse mit für die Bibliothekarinnen; Gewinne lassen sich so natürlich nicht generieren.

Das Stammhaus steht seit Jahren leer, die Buchhandlung, die nach der großen Pleite im Jahre 2001 die Räume bezog, ist selbst längst nicht mehr am Markt, und manchmal, ganz selten, wenn ich vorbei komme, halte ich an und schau sehnsüchtig in die Fenster. 

Am Fahradständer vor dem Haus ist immer noch die alte Werbung.

15 Kommentare:

  1. Dass kein Gewinn erwirtschaftet wurde, lag sicher daran, dass da tonnenweise Bürcher geklaut wurden.
    Nachdem alle davon schwärmten, wie einfach das sei, hab ichs auch mal ausprobiert und, siehe da!, ich bin unbehelligt mit einer Ausgabe von Reiner Kunzes 'Wunderbare Jahre' die große 50er-Jahre-Treppe runter und auf die Straße spaziert. Hab ich mich geschämt, hinterher!

    AntwortenLöschen
  2. Wir sollen nur tiefer und wunderbarer hängen an dem, was war,
    und lächeln: ein wenig klarer vielleicht als vor einem Jahr.

    Rainer Maria Rilke
    (1875 - 1926)

    *♥seufz*

    AntwortenLöschen
  3. Traurig. Und so schön geschrieben.

    AntwortenLöschen
  4. Wirklich schön geschrieben. Berührt.

    AntwortenLöschen
  5. Ach herrje, wie traurig.
    Er war ein toller, charismatischer und, wie ich finde, wunderbarer Chef.
    Die Jahre dort waren sind für mich unvergessen und haben mich geprägt.

    Wenn ich sterben und euch für eine Weile
    zurücklassen sollte - weinet nicht um meinetwillen.
    Wendet euch wieder dem Leben zu.
    Lasst euer Herz und eure Hand etwas tun,
    das andere tröstet.
    Bringt zu Ende, was ich unvollendet zurück ließ.
    Mary Hall

    AntwortenLöschen
  6. Er war der beste Chef, den man sich wünschen konnte. Ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Und ich finde es grandios, dass er einfach an seinem Schreibtisch in seinem verkramten Büro eingeschlafen ist. Kein Siechtum, keine Krankheit, geistig völlig wach, bis zur letzten Minute mitten im Leben.

    Mir eine Ehre, in diesem Haus gearbeitet zu haben.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. So traurig sein Ableben ist, so schön doch die Art wie er gegangen ist.
      Man merkt, dass Du ihn sehr mochtest.

      Löschen
    2. ...und sehr liebevoll geschrieben

      Löschen
  7. Ein würdiger, leiser und feiner Nachruf.

    AntwortenLöschen
  8. http://www.berliner-zeitung.de/berlin/zum-tod-von-robert-kiepert-der-groesste-buchhaendler-berlins-25705570

    AntwortenLöschen
  9. Tja, aus einer Zeit, als Chefs noch Menschen waren. Ich hatte auch mal so einen Vorstand. Der hat zwar immer seinen Büroaffairen die Boni zugeschanzt, aber als wir wegen einem Notfall mal am Wochenende arbeiten mussten, erschien er persönlich, um sich zu bedanken und orderte Pizza für alle. Und als eine langjährige Bürobotin (!) in Ruhestand ging, kam er zur Verabschiedung, hielt eine tolle Rede und schenkte der in Tränen aufgelösten Frau eine schöne Uhr. Er kannte die Familienverhältnisse seiner Leute, es gab solide Arbeitsverträge und jeder wurde ordentlich bezahlt.

    AntwortenLöschen