Sie sah schon mit 20 aus wie 40 und mit 40 wie 60 und ich bin mir sicher, obwohl ich sie bestimmt seit 20 Jahren nicht mehr gesehen habe, dass sie an diesem Punkt stehen geblieben ist. Leonore, genannt Lörchen, eine frühere Kollegin, die sehr auf sich hielt, vor allem aber darauf, dass sie niemals einen Mann "näher" kennengelernt hatte. Ihre Mutter sagte ihr immer, das sei nichts für sie und da sie bis zum Tode derselbigen mit ihr zusammenlebte, blieb es bei dieser einen, reinen Liebe zu ihrer frühverwitweten Erzeugerin.
Eines Tages brachte sie mir ihre Hochzeitsschuhe mit. Die hatte sie sich gekauft, in den frühen 70er Jahren, für den Fall, dass doch noch mal eine Heirat ins Haus steht. Ihre Mutter schimpfte sie aus, wegen ihrer Dummheit, "Du wirst sowieso nie heiraten", deshalb brachte sie mir die Schuhe mit. Ich hielt sie verdutzt in den Händen. Sie lagen im Originalkarton, schimmernd und elfenbeinfarben, in Seidenpapier eingeschlagen und sahen eigentlich nicht so schlecht aus, voll vintage, aber das gab's damals noch gar nicht. Ich nahm sie nicht an, denn ich hatte absolut keine Verwendung für weiße Brautschuhe. Heute bereue ich das, denn ich hätte ihr eine Freude damit gemacht.
Sie hatte langes graues Haar, das sie stets zu einem Dutt frisierte und ihre riesige Schreibmaschine schützte sie vor Staub mit einem gehäkelten Überwurf. Sie war penibel, bescheiden und unserem Chef restlos ergeben, beziehungsweise immer in Sorge um ihn und seine Finanzen, die damals besser hätten nicht stehen können. Dennoch überwies sie ihm jede Extra-Gratifikation wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld wieder zurück, da sie sich sicher war, dass er es viel besser gebrauchen kann. Auch die drei Extra-Gehälter nach 30 Jahren Betriebszugehörigkeit nahm sie nicht an.
Die Stempeluhr zog sie bei jedem Toilettengang, weil es ihr wie Betrug vorkam, wenn ihr diese Zeit bezahlt würde. Nach jeder Nahrungszufuhr putzte sie sich gründlich die Zähne, natürlich zog sie auch hier die Stempeluhr. Sie sprach umständlich, langsam, fast schleppend, aber mit einem reichen Wortschatz, den sie elegant zu nutzen wusste.
Sie teilte sich lange Jahre das Büro mit einer Kollegin, die eines Tages vollkommen überschnappte, nachdem sich schon Jahre zuvor ankündigte, dass das eine oder andere Schräubchen im Oberstübchen etwas locker saß. Diese Kollegin begann eines Tages ihre Kunden, die Bibiothekarinnen der umliegenden Universitäten, vor allem aber der TU, zu beschimpfen, weil diese "schon wieder" etwas bestellten; sie fand das zunehmend empörend und machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube.
Nachdem das untragbar wurde und auch der konsultierte Psychologische Dienst nichts ausrichten konnte, wurde ihr schweren Herzens gekündigt. Noch Wochen stand diese Kollegin im Hochsommer, gekleidet in einen dicken Wintermantel, im Hausflur des Hintereingangs - einzig Lörchen betreute sie auf der Treppe stehend und versuchte ihr mit Engelsgeduld klarzumachen, dass sie nicht mehr bei uns arbeiten darf. "Neumännchen, es hat doch leider keinen Zweck, es ist doch auch viel zu warm hier, komm doch kurz in mein Büro, dann erfrischst du dich etwas und dann gehst du wieder nach Hause." Neumännchen schaute starr geradeaus, sagte keinen Pieps und eines Tages blieb sie weg und kam nie wieder.
Lörchen war untröstlich über das Schicksal ihrer Zimmernachbarin und dass sie ihr nicht helfen konnte. Auch der liebe Gott war keine Hilfe, was sie besonders bekümmerte, denn sie war festen Glaubens und verstand nicht, was da vor sich ging.
Eines Tages starb ihre Mutter, das traf sie schwer. Weil die Wohnung so leer war, begann sie, einige Kolleginnen zum Kaffee einzuladen. Auch ich war eines Tages an der Reihe, zusammen mit ein paar anderen. Am Tisch hatte sie am Platz der Mutter ein Foto aufgestellt, damit diese "auch etwas von dem Besuch hat"; eingedeckt war für sie ebenfalls. Als wir uns auf's Sofa begaben, wanderte das Foto mit. Sie erzählte, dass sie das Foto in jeden Raum mitnahm, in dem sie sich aufhielt, weil sie sich so weniger allein fühlte.
Einige Zeit später war sie in heller Aufruhr, weil ein "Etablissement" in ihrer Straße eröffnet wurde. Ab dem Tag nahm sie riesige Umwege vom Bus zu ihrer Wohnung, weil sie nicht von dem Glauben abzubringen war, dass die "Männer etwas mit mir vorhaben". Sie lebte in ständiger Angst, dass sie sie bei der erstbesten Gelegenheit "von der Straße wegfangen" würden.
Als sie in Rente ging, fragten wir uns, was nun aus ihr werden würde, aber sie erzählte munter von Busfahrten mit dem 100er und den vielen Sehenswürdigkeiten, die sie nun jeden Tag sehen würde.
In all den Jahren, die sie nun schon in Rente ist, schreiben wir uns jedes Jahr zum Geburtstag und zu Weihnachten Karten. Sie schreibt formvollendet Glückwünsche und berichtet von ihren zahlreichen Gebrechen, mit denen sie mich aber nicht weiter belasten wolle.
Dieses Jahr habe ich es zum ersten Mal vergessen, zeitig eine Karte einzuwerfen, also bemühte ich heute die Teleauskunft und siehe da, Menschen wie sie sind noch zu finden. Ich rief sie an zu ihrem heutigen Geburtstag und ihre Freude darüber war mehr als rührend.
Ich bin der katholischen Kirche ausnahmsweise mal dankbar, denn sie hat heute gefeiert mit ihrem "kirchlichen Frauenkreis", von 16.00 - 18.00 Uhr. Sie brachte für jede ein Stück Kuchen mit und da sie noch zwei Stück übrig hatte, brachte sie diese einer Dame vorbei, die nicht mehr so gut zu Fuß ist. Dabei kann sie selber kaum noch krauchen.
"Für gewöhnlich sprechen wir über religiöse Dinge, aber heute wurde es unversehens persönlich. Wir haben uns aus unserem Leben erzählt und eine jede gab ihren Teil dazu. Insgesamt war das ein sehr schöner Tag heute. Ich bin zufrieden. Es ist doch erstaunlich, wie weit ich gekommen bin."
Mit den besten Wünschen für meine Gesundheit, die ich herzlich erwiderte, verabschiedeten wir uns.
Es geht doch nichts über ein persönliches Gespräch.
schön !
AntwortenLöschenTraurig...
AntwortenLöschenIrgendwie scheint diese Leonore doch ein interessanter Mensch zu sein, trotz oder auch gerade wegen aller Merkwürdigkeiten.
AntwortenLöschenIch finde grundsätzlich alle merkwürdigen Menschen interessant. Das bemerkenswerte an ihr ist, dass sie so zufrieden scheint, obwohl sie ein Leben führte, das ich mit Sicherheit nicht hätte leben wollen. Sie ist die Güte in Person.
AntwortenLöschenJeder hat seine eigene Vorstellung von Glück. Und es ist schön, von Menschen zu hören oder zu lesen, die es wohl gefunden haben. Sehr schön geschrieben!
AntwortenLöschenOb sie ihr Glück gefunden hat... Ich hoffe es für sie, sehr sogar; befürchte aber, dass hier eher gewaltige Verdrängungs-, und Selbstverleugnungmechanismen am Werke sind. Macht aber auch nix, denn der Sinn ist dann ja erfüllt: keine Sehnsucht nach etwas anderem zu spüren.
LöschenEine wunderbare Geschichte über eine wunderbar verschrobene Person. Ist es nicht erstaunlich, dass manche Menschen glücklich alt werden, obwohl sie nicht nach denselben Normen leben wie wir?
AntwortenLöschenDas "ungebraucht" in der Headline scheint mir ein wenig ... unangemessen.
Deinen Eindruck von "unangemessen" teile ich widerspruchslos. Ich muss gestehen: reines Clickbaiting. Hätte ich das Wort weggelassen, hätte wohl kaum Interesse für diesen Text bestanden, ich wollte aber unbedingt, dass "ihre" Geschichte gelesen wird.
LöschenP.S. Wenn dir etwas würdevolleres einfällt, ändere ich es gerne.
LöschenLeonore, 83, ungebeugt?
LöschenIch hab schon den Vorschlag „unberührt“ übernommen. Fand ich sehr passend.
LöschenSolche Leben verblüffen mich immer extrem... Hat sich die Gute denn nie mit anderen verglichen und dann ein Defizitgefühl entwickelt? Anderseits, die ewige Vergleicherei, die ist ja auch nicht gut und meiner Meinung nach heute ein grosses Problem. Weil man ja ständig um die Ohren gehauen bekommt, wie aktiv/erfolgreich/optimiert/schön die anderen sind. Ein weites Feld. Jedenfalls: wunderschön geschrieben!
AntwortenLöschenVielen Dank!
Löschenunberührt?
AntwortenLöschenPerfekt! Besten Dank.
LöschenAch Lörchen.. Vielleicht warst du die letzte deiner Art.
AntwortenLöschenJa, ich glaube, Nachwuchs gibt es dort nicht mehr
Löschenich hatte zu tun deswegen konnte ich das wöchentliche Highlight heute erst lesen. aber es bedarf NIE eines reißerischen textes in der überschrift, denn ich lese immer alles gierig! so auch diese geschichte. rührend. erinnert mich an todesannoncen in denen die verstorbene extra mit fräulein sowieso betiteln ließ. mein exschwiegervater erklärte mir, während ich mich vor lachen bog, dass es einigen damen immens wichtig sei, das auch über ihren tod hinaus zu manifestieren: unberührt! und das hieß es früher wohl auch bei unverheiratet...oft. sicher nicht immer. meine oma hingegen war quasi ein luder, geburtsjahr 1901, heiratete erst, als ihre älteste tochter bereits 3 Jahre alt war, skandalös...
AntwortenLöschenUnd wie "nett" die alte Kollegin doch war, dem chef das geld geschenkt...da kräuseln sich die locken noch mehr bei mir...lach.....das würde mir im traum nicht einfallen aber so kanns gehen...mein chef würde sie geliebt haben!
Liebe Hedi, meine Oma war auch ein Luder. Und ich finde das richtig gut. Die andere Oma, die offiziell kein Luder war, hat aber auch erst zwei Jahre nach der Geburt ihrer ersten Tochter geheiratet. Also war sie auch eins, inoffiziell.
LöschenLiebste Grüße in den hohen Norden
Schön beschrieben, gut beobachtet, aber eigentlich eine tragische Geschichte. Ein ungelebtes Leben Dank einer egoistischen Mutter.
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