Donnerstag, 28. Juni 2018

Wie aus kurzen Affairen lange Freundschaften werden

"Gefangen habe ich mich dann erst wieder, als ich nach sechs Wochen aus der Geschlossenen rauskam", sagt er.

"Du warst in der Geschlossenen?"

"Habe ich dir das nie erzählt?"

"Nie. Du hast immer von einer etwas schwierigeren Pubertät erzählt, weil du Schnauze gestrichen voll und keine Lust mehr hattest auf Insulin spritzen."

"Naja, geht man ja auch nicht gerne mit hausieren. Nee du, ich war bestimmt 23 mal als Notfall in der Klinik, da haben die mich irgendwo auf der Straße aufgegabelt, völlig desorientiert und dann meinten sie, es reicht, der gefährdet sich selbst, jetzt schließen wir ihn mal eine Weile weg."

"Hast du mir nie erzählt. Und wann hast du dich wieder gefangen?"

"Was meinst du damit?" Er lächelt spöttisch. "Dass ich wieder arbeiten ging, oder eine Freundin hatte, oder eine Wohnung oder alles zusammen und damit etwa ein glücklicher Mann? Ganz ehrlich, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht in eine Situation gerate, in der ich um mein Leben kämpfe. Ich wach manchmal nachts auf, weißt du, ich habe überall Süßigkeiten, aber manchmal weiß ich nicht mehr, dass das Süßigkeiten sind, die ich jetzt essen muss. Mein Herz rast und ich denke, schöne bunte Dinger, was muss ich jetzt machen, irgendwas stimmt nicht. Kein Spaß, sage ich dir. Manchmal tröstet mich nur, dass das Leben endlich ist."


"Das ist ein Trost? Hast Du denn keine Angst vorm Tod?" frage ich und neige mich ganz nach rechts, zu ihm, der neben mir auf der Bank sitzt, abends am Lietzensee, zu dem wir nach dem Sushi futtern hinspaziert sind. Ich schau ihn konzentriert an. 

"Nein. Und ich hoffe, ich sterbe allein. Ich will nicht, dass mir jemand dabei zusieht, wie ich mir womöglich noch in die Hosen scheiße. Das ist meine Privatsache. Wenn möglich will ich den Zeitpunkt selbst bestimmen."

"Selbst bestimmen? Ich will ü-ber-haupt nicht sterben."

"Warum denn nicht? Dann hat alles Leiden ein Ende."

"Aber es ist doch nicht nur Leiden, das Leben."

"Meistens aber schon. Oder bist du immer glücklich? Ich weiß jedenfalls, die Rente werde ich nicht erleben."

"Wieso das denn nicht?"
 Er ist einer der sportlichsten Männer, die ich kenne.

"Weil ich es weiß. Aber sag, bist du immer glücklich?"

"Nee, wer ist das schon? Früher war ich öfter glücklich, sehr leicht sogar, aber auch schnell unglücklich. Aber heute? Kein Zu-Tode-betrübt-himmelhochjauchzend mehr. Schade, echt schade. Ich bin so oft mit einer überirdisch guten Laune aufgewacht, mir hat die Welt gehört, schon morgens um 6 Uhr. Jetzt habe ich gar keine Laune mehr. Andere sagen mir Das geht mir schon mein ganzes Leben so und ich denke, man war das toll, als ich noch eine richtige Hysterikerin war."

"Aber früher wären wir nicht zum Lietzensee spaziert, du hättest darauf bestanden, mit dem Auto zu fahren."

"Stimmt, ich war nicht nur hysterisch, ich war auch neurotisch." 

"Ja, und weil ich das nicht wusste, habe ich mich auch gleich wieder von dir getrennt, weil ich dachte, du bist eine faule Socke. Mit meinem Bewegungsdrang, das wäre nie gut gegangen."

"Ich war eben eine heimliche Neurotikerin." 

"Hättest ja mal was sagen können."

"Du ja auch."


3 Kommentare:

  1. Das kommt mir bekannt vor: Dinge, die man sich nie gesagt hat.

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    1. Und die Frage bleibt: hätte es was geändert? Ich glaube nicht.

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    2. Nein, hätte es sicherlich nicht. Wie aus langen Affairen keine Freundschaften werden… Eine andere Geschichte.
      Ohnehin eine eigenartige Vorstellung: nur weil der andere etwas gesagt hat, hätte sich vielleicht etwas geändert. Zuhören wird weit überschätzt.

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