Donnerstag, 13. September 2018

Von Nazis und Narzissten

Familienfest, in das ich als Patentante eingemeindet bin. Der Vater (80) der Gastgeberin ist auch zugegen, ein alter Ost-Berliner Haudegen von altem Schrot und Korn. Ich erwähnte ihn hier schon mal.

Mich beäugt er immer argwöhnisch, weil ich die lang Verflossene des Gastgebers bin und in seiner Welt haben Verflossene nichts in der Gegenwart zu suchen. Mein eigener Vater ist da ähnlich skeptisch und bemerkte mal, er müsse "endlich mal entscheiden, was er will" - so, als ob man sich nicht für eine Freundschaft entscheiden könne und als ob es für Verflossene nur einen richtigen Ort gibt: auf den Müllhaufen der eigenen Lebensgeschichte. 

Anyway: dem Gastgeberinen-Vater erspare ich natürlich nicht, dass er ein paar freundliche Worte von mir hört, wie es ihm denn ginge und er sähe aber gut aus und er bellt zurück, wie ich (und alle anderen) es von ihm gewohnt sind. 

"Wissense, wie'et drinnen aussieht, vaschteht keen Mensch hier. Als ick eben die zwee Treppen hoch bin, war ick aussa Atem, aber det glooben die hier alle nich, dit vaschtehn die einfach nich." Ob er noch alleine lebt, will ich wissen. "Jaaaa, na klaa, soweit komms noch, dat ick in so'n Alterheim gehe. Ick geh da zum Mittach hin, aba diese Geschprääche von die Alten halt ick im Kopp nich aus. Nee, soweit bin ick noch nich."

Später unterhält sich die ganze Runde über Chemnitz & Co. Der alte Herr mischt sich ein.

"Kann ick hier ooch mal was ssum Thema saren? Heute is man ja gleich'n Nazi, wenn man mal was saacht. Neulich, da wollte mir die Mutter vonne Judith nich mehr die Hand geben, nur weil ick gesacht habe, dass ick dit nich jut finde, dass die Juden ihre alten Grundstücke wieda ham wolln, die se damals abgegeben ham. Gleich war ick der Antisemit."

"Abgegeben?", mischt sich der Sohn ein, "Vater, die ham die nich 'abgegeben', die wurden enteignet und dann ins KZ geschickt. Und wenn die ihnen mal gehört haben, sollen sie sie auch wieder bekommen."

"Judiths Mutter ist Jüdin. Das gab Tumult am Tisch, kann ich dir sagen", raunt mir die Gastgeberin zu. 

Der Vater weiter: "Aber dass die Juden diese Grundstücke verfallen lassen und nich bebauen, dit is doch ne Schweinerei. Nehmense den Leuten weg und dann lassense alles vagammeln."

"Das hat doch nichts mit Juden zu tun, das ist ganz normale Grundtstücksspekulation, ist nicht schön, macht aber fast jeder. Und nochmal für die Akten: sie haben die Grundstücke nicht 'weggenommen', sondern sie haben ihnen immer gehört", widerspricht ihm der Sohn. 

"Ach, hör mir doch uff. Die Hand wolltese mir nich mehr geben, Hattese'n Ekzem plötzlich."

Die Gastgeberin: "Papa, sie hatte kein Ekzem, sondern ein Athrose-Anfall, sie hat niemandem die Hand gegeben."

"Jaja, und ick bin jetzte der Antisemit."

Dann verstummt er empört.

Platz für Chemnitz ist in der kleinsten Hütte.

                                                         ***

Später erzählt mir der Gastgeber, dass er auf dem Rechner seines verstorbenen Vaters alte Fotos gefunden hat. 

"Stell dir vor, mein Vater war der Narziss vorm Herrn. Es gibt bestimmt 2000 Fotos von ihm, vor dem Berg, neben dem Berg, mit Stock, ohne Stock, am See, im See, winkend, nicht winkend. Ich bin bald bekloppt geworden beim sichten. Ich weiß gar nicht, wer die Fotos alle machen musste. Wahrscheinlich meine Mutter."

"Gibt's denn auch Fotos von deiner Mutter?"

"Ja, ungefähr 50. Zweitausend von ihm, fünfzig von ihr. Ich wusste nicht, dass er so irre war."

"Verrückt. Er wirkte immer so harmlos verpeilt."

"Nee du, er fand sich offenbar großartig. Er hatte sogar ein Standbein."

"Ein Narziss in beige."


Memo an mich: früh genug den Rechner plattmachen. 

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