Dienstag, 27. Oktober 2015

Jetzt ist er weg

Als er zu uns kam, als studentische Hilfskraft, habe ich ihn nicht besonders beachtet. Das lag auch daran, dass er nur in den frühen Morgenstunden gearbeitet hat und gegen 10 Uhr spätestens Feierabend hatte. Er schnippelte und klebte den Pressespiegel zusammen. 

Ich bekam mit, dass Cheffe ganz hingerissen von ihm war. Und er selbst von der Kollegin, mit der er in einem Zimmer saß. Er flirtete so wild wie erfolglos mit ihr. Sie wies ihn flapsig zurück, was er gelassen und gutmütig hinnahm. Gelassenheit war überhaupt die Eigenschaft, die ihn auszeichnete. Nichts, was ihn für mich einnahm, zunächst. Im Gegenteil, ich fand ihn nicht gelassen, sondern gleichgültig. 

Er verwandelte seinen Schreibtisch in eine Müllhalde und den Platz zu seinen Füßen ebenso. Essensreste, Klopapier, Zeitungsschnipsel, Klebestifte häuften sich um ihn. Er hatte viel Ahnung von Musik, die mir gefällt und nahm freundlich, ohne mit der Wimper zu zucken, den Tipp von Bling Bling entgegen, dass Al Bano und Romina Power in der Waldbühne spielen. Wenn sie mir diese Neuigkeit von Weltrang mitgeteilt hätte, wäre mir das einen Blogeintrag wert gewesen, so sehr hätte ich darüber gelacht; heimlich natürlich, um sie nicht zu kränken. So wie ich ja auch all ihre Geschenke klaglos entgegen nehme und aufgegeben habe, ihr zu sagen, dass ich nicht auf Engeltassen stehe. 

Nach einem Jahr friedlicher Ko-Existenz (wobei der Frieden eher auf meiner Seite herrschte - ich glaube, dass ich ihm furchtbar auf den Zeiger gegangen bin mit meinem Gemecker, dass ein Büro keine Sondermüll-Deponie ist), erhob Cheffe ihn zu seinem Stellvertreter. 

Wir waren geschockt, weil wir bisher nichts an ihm festgestellt hatten, was ihn für diese Position prädestinierte und kaum zu vermitteln war, dass er nun der "kleine Chef" war. Seine gelassene Gleichgültigkeit brachte mich auf die Palme und ich bewachte ihn wie einen Schießhund. Termintreue war nicht sein Ding und ich bin die Termintreue in Person. Dafür werde ich bezahlt: überwachen und vorbereiten. Ein kluger Chef würde den Boden küssen, auf dem ich gehe. Weder bereitete er etwas vor, noch interessierten ihn seine Aufgaben. Da Cheffe vom selben Stamm war, sprang ich im Quadrat, weil ich nun zwei Chaoten zu bewältigen hatte.

Mir wurde geraten, die zwei gegen die Wand laufen zu lassen, was ich aber wegen meiner niedersächsischen oder sonst was für Gene nicht geschafft habe. Einmal ließ ich es darauf ankommen und sagte bis zwei Tage vor einer wichtigen Veranstaltung nicht, dass er etwas ganz Elementares vergessen hatte: die Einladung zu verschicken. Dann gab ich auf und rief ihn an. "Ah, ja, gut, mach ich." 

Ich platzte vor Wut, rannte in sein Zimmer und brüllte, dass, wenn ich schon seinen Arsch rette, will ich verdammt noch mal ein Dankeschön hören und überhaupt verdiene ich weitaus weniger als er, worauf er mich gleichmütig unterbrach, dafür könne er ja nichts. Ich schnaubte, für die paar Kohlen will ich nicht auch noch seinen Job machen. Am nächsten Tag brachte er mir ein Snickers mit.

Monatelang sprang ich um die Beiden herum, erinnerte hier und da und doppelt und dreifach, sie vergaßen alles, sobald ich aus der Tür war - schlau waren sie ja, sie wissen, auf mich ist Verlass. Ich war mit den Nerven am Ende und alle anderen auch, denn ich leide so gut wie nie leise. Ich war kurz vorm überschnappen, als Cheffe mich zur Seite nahm, ich solle ihm einfach mal vertrauen. Ihn hatte er auch zur Seite genommen und ihm erzählt, dass er mir befohlen habe, zu vertrauen. 

Wir hatten ein Gespräch und versprachen uns, dass ich ab jetzt mehr Vertrauen haben werde. Ich dachte, jaja, am Arsch die Räuber. Ich zwang mich täglich mehrmals, zu vertrauen. Boah, war das schwer. Aber in allerletzter Sekunde rettete er sich immer irgendwie raus. Ich lernte, dass ich vertrauen kann, auch wenn jemand nicht so anal (oder oral, was weiß denn ich) gestört ist, wie ich. 

Peu à peu lernte ich seine Gelassenheit zu schätzen, sogar die Vorteile zu sehen, vor allem, als er in einer mehrmonatigen Abwesenheit von Cheffe offiziell seine Position einnahm. Whow, dachte ich, so ein netter und immer freundlicher Mann. Kommste heute nicht, kommste morgen auch nicht. Läuft aber trotzdem alles. War eine sehr entspannte Zeit. Wozu also die ganze Aufregung? Konnte ich mir sparen. Ich lernte eine ganze Menge über mich. Lauter blöde Sachen. Wie extrem nervig ich sein kann, zum Beispiel, wo ich mich doch vorher für die perfekte Kollegin gehalten habe. Aber das bin ich nur für die, die ähnlich gestrickt sind wie ich. 

Ich mochte, dass man von ihm niemals ein Messer in den Rücken bekommen würde. Dass er niemals auch nur ein schlechtes Wort über jemanden sagte. Dass er sich nie an Tratsch beteiligte. Dass er jedem vollkommen unvoreingenommen begegnete (unter anderem ja auch mir). Dass er so ein begeisterter Suppenliebhaber war. Dass er meine temporäre Hysterie mit einem Lächeln abmoderierte, mit einem kaum spürbaren Hauch von Distanz - so wie ich Bling Bling nicht kränken mag, so wollte er auch mich nie kränken. 

Ich zog mich vollständig aus seinen Geschäften zurück, was so auch nicht ganz in Ordnung ist, aber zu unser beider Seelenfrieden eine Menge beitrug. Was soll ich sagen, es lief, sogar richtig gut. Mir wurde völlig gleichgültig, womit er betraut war. Er ist ja schon groß, dachte ich, wenn er mich braucht, wird er schon fragen.

Dann passierte das Allergrößte: er bot mir an, sein Einzelbüro mit meinem fucking Durchgangsbüro zu tauschen. Ihm sei das egal und er wisse doch, dass ich mir wünsche, allein zu sitzen. Ich bekam den Mund nicht mehr zu. Was für eine Geste! Werde ich ihm nie vergessen. 

Als uns vor ein paar Wochen Cheffe mit ernster Miene zu einem außerplanmäßigen Meeting bestellte, lief mir ein freudiger Schauer über den Rücken. Endlich! Endlich würde er kündigen. Ich war mir ganz sicher und hatte große Mühe, meine Ekstase zu verbergen und legte weitsichtig eine Maske des Bedauern auf. 

Tja, und dann kündigte nicht Cheffe, sondern er, mein liebgewonnener Kollege. Ich bin untröstlich seitdem. Weil er nicht nur mich befriedet hat, sondern auch Cheffe. Er ist in der Lage, jedem zu geben, was er braucht. Ich kann will nur Menschen geben, was sie brauchen, wenn ich sie mag. Sie müssen nicht mal mich mögen, es reicht, wenn ich sie mag. Er war ein Bindeglied zwischen Cheffe und mir und gab uns paritätisch ein Forum. Ich bin mir sicher, wir kotzten uns beide bei ihm aus, aber davon erfuhren weder Cheffe noch ich ein Sterbenswörtchen. 

Gestern war sein letzter Tag und abends lud er uns in eine japanische Suppenküche ein - what else?

Jetzt ist er weg und ich bin wieder allein, allein  - mit Cheffe. 

Was ich nie erfahren werde... ob sein ausgleichendes Temperament nun an seiner Gelassenheit oder Gleichgültigkeit lag. Oder an guten Drogen.

1 Kommentar:

  1. Thanks for sharing such a nice thinking, piece of writing is
    nice, thats why i have read it fully

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