Zwischen Abi und Ausbildungsbeginn lag ein langer, heißer Sommer, den wir am See verbrachten, zu dem wir zurückkehrten, nachdem wir mit der halben Klasse an der Côte d'Azur waren, mit dem Motorrad und klapprigen Autos natürlich, denn damals gab es noch keine organisierte Abireisen, sondern nur befreundete Schüler, die sich auf eigene Faust auf den Weg machten, ohne Navi, ohne Handy - Gott allein weiß, wie wir überlebt und den Weg nach Hause gefunden haben.
Ich machte zum ersten Mal die Erfahrung, unsichtbar zu sein, in Nizza, als ich mich in einen Park verirrte, der ausschließlich von Männern frequentiert wurde, die nur Augen für einander hatten.
In meinem Kaff gab es durchaus auch Männer, die es vorzogen, ihre sexuellen Präferenzen öffentlich auszuleben, allerdings mit einem anderen Fokus: sie standen in Sichtweite im Gebüsch und holten sich einen runter; stundenlang. Aber das wirkte doch alles eher verzweifelt als befriedigend, so schlau waren wir schon mit fünfzehn. Die ganz Offensiven stellten sich auch schon mal direkt vor die Parkbank, auf der wir Mädchen saßen, und holten seelenruhig ihren Schwanz raus; was uns nicht weiter traumatisierte, denn es war ja hellichter Tag und wir waren zu dritt oder zu viert.
Wir hatten außerdem gelernt, wahrscheinlich aus der Bravo, solchen Typen keine Beachtung zu schenken, denn das genau wollen sie, entsetztes Mädchengeschrei. Wir wurden zunehmend lässiger, erhoben uns ohne Eile und seufzten gelangweilt "Boah ey, schon wieder so einer."
Ich dachte trotzdem, dass in jedem von ihnen ein Axtmörder steckt, denn wenn ich mir vorstellte, mich zwönge eine schlimme Geisteskrankheit, selbiges zu tun, dann wäre ich wahrscheinlich zu noch anderem fähig, da kommt doch eins zum anderen. Krankes Zeug lag für mich grundsätzlich ziemlich nah beeinander.
So gesehen habe ich in Nizza Männer von einer ganz anderen, angenehmen Seite kennengelernt. Auslandserfahrungen sind einfach wichtig.
Stationiert waren wir in Cannes, auf einem Campingplatz, wir hielten uns den ganzen Tag am handtuchbreiten Strand an der Croisette auf, in der Nähe des Hotel Carlton.
Ich träumte mich in eins der bestimmt prächtigen Zimmer, denn von Campingurlauben hatte ich eigentlich die Nase voll, da meine Eltern andauernd, praktisch in allen Ferien, den Wohnwagen und das Vorzelt einpackten und ich mir das Geschnarche von meinem Vater anhören musste, eng zusammen gequetscht mit meinen Schwestern, und darüber nachdachte, was zur gleichen Zeit alles Tolles zu Hause passierte, was ich wegen der dämlichen Reisefreudigkeit meiner Eltern alles verpasste.
Die Zuhausegebliebenen zelteten nämlich auch, direkt auf der Wiese vor dem Hochhaus, in dem wir damals noch wohnten, aber da hörte die Campingliebe meiner Eltern natürlich auf, ich durfte nie mit draußen übernachten, obwohl das ALLE anderen durften. Die knutschten bestimmt die ganze Nacht und alles ohne mich, während ich in Büsum versauern musste und noch nicht mal im Vorzelt schlafen durfte.
Camping in Frankreich ohne nervige Eltern war natürlich was anderes. Erstmal war ja immer warm und der Lavendel duftete betäubend. Kein Auto hielt an einer roten Ampel, das war natürlich sensationell für uns gesetzestreue Germanen, die gerade 20 Minuten den Führerschein hatten. Einer von uns hatte auch gleich einen Unfall, weil er bei grün fuhr, war aber nur ein Blechschaden.
Wir schwammen weit ins Meer, bis zu einem Felsen, auf dem wir uns sonnten, was sehr unbequem war, aber Felsen gab's zuhause am See nunmal nicht, also war das eine besondere französische Spezialität, außerdem hatten wir noch keine Rückenprobleme.
Einer zog sich so einen Sonnenbrand zu, dass ich nicht glaube, dass er heute noch lebt.
Wir waren uns sicher, dass wir unser ganzes Leben lang engste Freunde bleiben.
Als wir wieder zurück im Kaff waren, lagen wir an einem Abend, es wurde schon dämmrig, wieder am See, hörten Musik. ein paar spielten Fußball, ich betrachtete sie im Gegenlicht der untergehenden Sonne und mir wurde auf einmal klar, sonnenklar, dass wir das wohl nicht schaffen werden, ein Leben lang, dass sich unsere Wege unaufhaltsam trennen werden, ich spürte den Abschied, der in der Luft lag und uns bevorstand und wollte diesen Moment unbedingt festhalten, mit aller Macht unauslöschlich in mein Gehirn brennen, und das zumindest ist mir gelungen.
Achtziger, letzte Fahrt mit Schulkameraden, Cote d'Azur, Zelten... kommt mir alles sehr bekannt vor. Selbst das Sonnenbrandfoto habe ich auch (weiß aber, dass es dem Abgebildetem gut geht...).
AntwortenLöschenIch brauch Beweise! :-)
LöschenAber nicht öffentlich.
LöschenWie wir festgestellt haben, haben sich noch mehr Leute damals den Rücken verbrannt...
LöschenJa ja, die französische Sonne...
LöschenWas für eine schöne Geschichte, da kann man gar nicht aufhören mit dem Lesen. Mein Lieblingssatz: "... aber Felsen gab's zuhause am See nunmal nicht, also war das eine besondere französische Spezialität, außerdem hatten wir noch keine Rückenprobleme."
AntwortenLöschenJa, ich komm' aus dem Grinsen nicht mehr raus. Vielen Dank.
Oh, vielen Dank für deine freundlichen Worte :)
LöschenWow, wie außergewöhnlich und schön, dass dir dieser Moment so bewusst geworden ist. Ein sehr melancholischer Moment. Ich liebe melancholische Momente.
AntwortenLöschenIch auch...
LöschenSo ein schöner Text! Bedient heute exakt meine nostalgische Stimmung!!!
AntwortenLöschenLG,
Britta
So ein schöner, atmosphärischer und melancholischer Rückblick! Man ist fast dabei und manches kommt mir so bekannt vor.
AntwortenLöschenEs bleibt ein Rätsel, warum manche Momente, die nicht einmal besonders spektakulär waren, sich für immer ins Gedächtnis einbrennen, während andere, die das Zeug dazu hatten, ins ewige Vergessen fallen.
Schön, dass Dir diese Erinnerung erhalten geblieben ist.
Ich war schon immer verliebt in die Vergangenheit.
LöschenDanke für all die lieben Worte! Ich freu mich sehr drüber.
AntwortenLöschenVor das Foto mit dem Sonnenbrand gehört eine Triggerwarnung!
AntwortenLöschenAnsonsten: Mit lebenslanger Freundschaft ist das generell so eine Sache. Die meisten verkapseln sich ab 30 in Arbeit und Familie. Freundschaften existieren danach meist nur noch in dem Sinne, dass man sich alle paar Wochen mit einem befreundeten Ehepaar zum Essen trifft. Die wahre Zeit der Freundschaft ist Kindheit und Jugend (im weitesten Sinne, also bis 30). Und die wahre Zeit des Lebens vermutlich auch...
I wo, die wahre Zeit für Freundschaft ist immer. Man muss es nur wollen.
Löschen