Feuerbachstraße, Samstag, früher Abend.
Ein Paar und eine Frau in den Sechzigern setzen sich schräg gegenüber. Die Frau schmal, drahtig, jungenhaft, hält
einen enervierenden Vortrag über ihre Badminton-Sporthalle, das
blendende Licht, die Schwierigkeit den Federball zu erkennen, demzufoge
von ihm getroffen zu werden, anstatt ihn zu retournieren, die Lösung,
ihn mit Textmarker anzumalen, geht über zu ihren Kollegen, die sich in
der Mittagspause in ihre Smartphones vertiefen, "Das werde ich nie
verstehen", empört "Was machen die da nur? Dass man einmal guckt,
versteh ich ja, aber die ganze Zeit und ich sitz dann da wie blöde."
Hochgradiger Sprechdurchfall. Wenn ich mit der Frau
Pause machen müsste, würde ich mir zur Veranschaulichung meines
mittäglichen Schweigegelübdes Mixed Pickles in die Ohren dekorieren und
eine Schlafbrille aufsetzen.
Schöneberg, Samstag Nacht
Ein Mann stürzt in letzter Sekunde in die S-Bahn. Schwankt, Bierpulle in
der Hand. Gut gekleidet, Gesicht nicht gezeichnet. Gepflegt. Setzt
sich, randaliert nicht, nur hackedicht, auf stille Art. Steigt Rathaus
Steglitz wieder aus und entschwindet mit Korsakow-Syndrom in die Nacht.
Rathaus Steglitz, Sonntag Nachmittag
Derselbe Mann steigt ein, wieder Bierpulle in der Hand. Nüchterner als
gestern Nacht. Steigt Schöneberg wieder aus. Keine nennenswerte
Gangstörung. Sein Radius scheint begrenzt, deckt sich aber mit meinen
Terminen. Die Welt ist klein.
Südkreuz, Sonntag Nachmittag
Mann steht am Gebüsch, kaum 50
Meter entfernt von wartenden Passanten vor dem Bahnhofseingang. Fummelt
sich umständlich an der Hose und pinkelt gemächlich in die Botanik.
Nicht versteckt, nicht nach Privatspähre suchend, leicht gebeugt.
Fummelt alles wieder rein, bleibt vornüber gebeugt stehen,
sinnierend, fummelt alles wieder raus, weiter geht's im Takt. Die
Prostata? Frage mich, was passieren würde, wenn Frauen mit
Blasenentzündung keine Lust hätten, die 50 Meter zum Bahnhofsklo zu
laufen. TaTüTaTa...
Tempelhof, Sonntag früher Abend
Ein Paar steigt ein, Mitte Zwanzig. Sie bleiben stehen. Sie spricht,
sucht seinen Blick, er schaut über ihren Kopf hinweg, antwortet nicht.
Sie lehnt sich an ihn, schließt ihre Arme um seinen Rücken, legt ihren
Kopf an seine Brust. Er nimmt seine Arme hoch, als wolle er ausgiebig
gähnen, streckt sich, es sieht aus, als wolle er sie abschütteln. Es
klappt, sie gibt auf und rückt traurig ab.
Taxistand
Ich steig ein, nenne das Ziel, Fahrer erkennbar sauer, stöhnt auf. "Ist
Ihnen die Strecke zu kurz?" - "Nee, isch hab Ärger mit Kolläge. Darf ich
nicht Du sagen. Kommen alle von Horwad. Oder wie heißt amerikannische
Uni?" - "Harvard?" - "Korrekt. Horwad. Hab isch ihm gesaggt, komm her
und kannst mich berührren, wirst du sähn, was passiert, berühr mich
nicht, wir können Freunde sein. Sagt der, Fresse halten. Sag ich, pass
auf, was du sagen, Kolläge." Tonfall wird bedrohlicher, Stimmung
unbehaglich. Ein Taxifahrer ist letzten Endes auch nur ein fremder Mann, zu dem ich Nachts ins Auto steige.
Dann fängt er sich, meint leutselig "Aber isch würde niemals Ärger
zeigen zu meine Kundänn, oder böses Gesicht, isch schwöre." Beim
Abschied: "Ha ha, wir kommän alle von Horwad, hä?"
Sehr schöne Beobachtungen. Am meisten berührt hat mich "Tempelhof, Sonntag früher Abend".
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