Sonntag, 3. April 2022

Ich bin ein Star, holt mich hier raus

Ich habe eine Freundin, die hatte Zeit ihres Lebens große Angst, blind zu werden und informierte sich fortwährend im Internet, welche Krankheiten infrage kommen für derlei finale Arbeitsniederlegungen ihrer Sehwerkzeuge. So kannte ich durch sie Worte wie "feuchte Makula" und da sie ihre Studien fleißig vertiefte, ja ganze Wochenenden in Notaufnahmen verbrachte, weil sie nicht davon abzubringen war, in den nächsten Stunden zu erblinden, wunderte ich mich nicht, dass sowohl sie als auch ihr geduldiger Gatte eines Tages mit sagenhaft komplizierten Augenerkrankungen reüssierten, wegen derer beide begannen, sich Medikamente in die Augen zu tropfen, die Braille Schrift zu lernen  und über die Anschaffung eines Blindenhundes nachzudenken. Prophylaktisch.

Obwohl ich immer nur flüchtig zugehört hatte bei ihren jahrelangen Vorstudien, war mir doch der Ernst meiner Lage augenblicklich klar, als mein rechtes Auge vor ca. einem Jahr rasend schnell schlechter wurde. Es kackte richtiggehend ab. Ich meine, seit meinem 7. Lebensjahr trage ich Brille oder Kontaktlinsen - ich kann also sehr wohl unterscheiden, ob die Lage ernst oder nur eine neue Brille fällig wird. 

Irgendwas stimmte nicht. Und so beschloss ich, niemandem etwas davon zu sagen. 

Es wurde schlimmer und schlimmer und obwohl ich nicht nach den Symptomen googelte, lag die Diagnose klar auf der Hand: Hirntumor. Mindestens Augentumor, der auf den Sehnerv drückt. Mein armes Hirn hatte zumindest die Arschkarte aus den zunehmend unterschiedlichen Talenten meiner beiden Augen noch ein halbwegs kongruentes Bild zu zaubern. Das linke Auge war wie immer, das rechte quittierte seinen Dienst. Stellt euch vor, ihr dreht an einer Kamera die Linse scharf oder unscharf (die Älteren unter euch erinnern sich noch). Stellt es euch maximal unscharf vor und dann wisst ihr, was ich noch gesehen habe.

Ich traute mich auch nicht, besagte Freundin anzurufen, die bestimmt sofort eine Diagnose hätte stellen können, denn mittlerweile weiß sie mehr als jeder Assistenzarzt, da bin ich mir sicher. Ich rief auch nicht die Freundin an, die mal Optikerin gelernt hatte und meinen Lieblingsoptiker Glen aus dem SSC in Steglitz rief ich schon gleich gar nicht an. Mir war ja klar, was alle drei gesagt hätte. Dass ich schnell zum Arzt muss - was ich aber schon selber wusste. 

Nun, im September 2021 rief ich endlich beim Augenarzt an und bekam auch schon für Ende Januar 2022 einen Termin. Mir war das ganz recht. Ende Januar kam und ich ging mit der Diagnose Grauer Star („Du meine Güte, Sie haben nur noch 5% Sehkraft - wie haben Sie eigentlich hierher gefunden? Wie, Sie fahren noch Auto? Ab jetzt nicht mehr. Ich meine das ganz ernst.“) und einem OP Termin heim. 

OP war super dank eines fantastischen Anästhesisten, der mir eine Dröhnung verpasste, die nichts weiter verursachte als maximale Entspannung bei gleichzeitiger Kooperation (auf deutsch: OP bei Bewusstsein unter völliger Abwesenheit von Angst). Wir unterhielten uns alle nett währenddessen und außer Lichtreflexen sah ich nichts von dem, was passierte. Ich war im Glück. 

Schon am nächsten Tag sah ich alles klar und hell und kontrastreich, gestochen scharf und unglaublich hell. Der Himmel so blau, speziell die Abenddämmerung ist so blau wie die Glasbausteine in der Gedächtniskirche - ich kann gar nicht glauben, dass alle Menschen ein derartiges Blau sehen. Da bräuchte doch niemand mehr Drogen, meine ich. Hat man nämlich grauen Star sieht man alles mit einem Gelbstich, der natürlich sehr gütig und mir als Meisterin der Innenbeleuchtung nur recht ist.

Aber vor allem ist es nun hell. Sehr hell. Und an meiner Innenraumbeleuchtung ist gar nichts warm oder gütig. Dachte ich noch vor der OP, ich müsse dringend mal all meine Glühbirnen austauschen, möchte ich am liebsten nur noch per Kerzenschein sitzen. Und die Beleuchtung an meinem Auto ist gar nicht so unterirdisch, wie ich immer gedacht habe.

Aber das schlimmste: ein mir sehr nahestehender Mann meinte vorher "Du wirst mich mit ganz anderen Augen sehen" und ich dachte, so ein Quatsch! Jetzt ist es aber so: ICH sehe MICH mit ganz anderen Augen. Das ist ein richtiger Schock. Mein Hirn muss sich kalibrieren, schätze ich, und was es für Seh-Eindrücke geliefert bekommt, kann es (ich) offenbar nicht richtig einordnen, ohne in Panik zu verfallen. Ohne diesen gelblichen Weichzeichner sehe ich die ganze Wahrheit und mir wird bewusst: ALLE ANDEREN sehen mich ja schon immer so. 

Und wie wird das, wenn das andere Auge auch noch operiert wird (dort habe ich immerhin noch 30% Sehkraft)? Wenn ich gar nicht mehr zwischen den Welten hin und her switchen kann, in dem ich mal das eine und dann das andere Auge schließe, um den Unterschied wahrzunehmen. Dann wird ja ALLES gleißendhell und schockierend farbig, aber auf eine kalte Art. 

Dann muss ich mir die Welt doch schönsaufen. 

Schickt mir Eierlikör.