Montag, 30. November 2015

Der Kiezneurotiker in 3 D


Am Sonntag war ich mit der Auftragsmörderin auf dem Tempelhofer Feld, im strömenden Regen, ihren Hund ausführen. 

Sidekick: Ich bin dem Hund sehr ans Herz gewachsen, weil ich oft in der Villa war, als er ein Welpe war. Das hat zur Folge, dass mich heutzutage 20 Kilo anspringen, und da ich seine Reaktion auf mich vermenschliche - ich kann einfach nicht anders - bilde ich mir ein, dass er mich sympathisch findet. Er übertreibt zuweilen, wenn er mit seiner "besseren Dosenöffnerin" zu mir nach Hause kommt, dann begrüße ich ihn vor der Tür, weil er mir sonst in den Flur pinkelt, so groß ist die Freude. Wenn ich ehrlich bin, will ich jetzt auch einen Hund. Am besten ihn. Wir sind schon aneinander gewöhnt und die Auftragsmörderin hat ihn sehr gut erzogen. Aus dem Gröbsten ist er raus. Leider geht das nicht, sie will  ihn selbst behalten und eigentlich habe ich es ja auch nicht so mit Tieren. Das muss ich mir immer wieder in Erinnerung rufen. Ich könnte ihn mal am Wochenende haben, wenn sie verreist. Aber sie verreist einfach nicht.

Jedenfalls, wie wir so über das Feld stapfen, uns gegen Wind und Regen stemmen, einige nervlich überlastete Flüchtlinge sich derweilen eine Massenschlägerei im Hangar liefern (was ich nicht weiter verwunderlich finde, denn wenn ich monatelang auf der Flucht gewesen und dann endlich angekommen wäre und nicht gleich ein abschließbares, warmes Zimmer mit einer Badewanne und ein Bett mit einer dicken Daunendecke bekommen würde, unter der ich mich zwei Wochen lang ausschlafen könnte, dann würde ich jeden Tag eine Massenschlägerei anzetteln - ich hab's im Hangar mal einen Tag lang anlässlich einer Messe aushalten müssen und da bin ich schon gefährlich weit aus meiner Komfortzone gedriftet) und unfassbar viele Polizeiautos angerast kommen, die Situation also immer unwirtlicher und unwirklicher wird, bekommt sie einen Anruf einer Freundin, ob wir nicht zum Tee vorbei kommen wollen. 

Dankbar nehmen wir an. Sind kaum da, gesellt sich noch ein Freund dazu, den ich zum ersten Mal sehe.

Irgendwann erzählt er, dass er in Prenzlauer Berg wohnt und beginnt eine Hasstirade vom allerfeinsten auf die Radfahrer, auf diese Scheiß-Anwälte, die im Anzug und mit Hosenklammer jedem „Du blöde Fotze“ hinterherbrüllen, der auf dem Fußgängerweg nicht schnell genug Platz macht. Wie er seine Tochter schützen muss, damit sie nicht von denen umgenietet wird. Und dass die miteinander auf engstem Raum Rennen fahren – wohlgemerkt auf dem Bürgersteig und dass sich neulich zwei auf die Fresse gelegt haben, weil sie sich ineinander verhakt haben, und der eine auf die Straße gefallen ist und das Auto gerade noch so bremsen konnte und dass er das schade fand. Eine Menge Hass kam aus ihm raus, er redete sich in einen Rausch.

Ich sah ihn fasziniert an und dachte: Dass ich Herrn Stevenson jetzt doch mal persönlich kennenlerne. Dolle Sache. Kein Mensch kann so sprechen, wie er schreibt, wenn er es nicht selber ist. Ich muss dazu sagen, dass ich seine Schilderungen bezüglich der Radfahrer immer für übertrieben hielt (weil man ja beim bloggen zwecks besserer Lesbarkeit immer übertreibt – jedenfalls mache ich das so), aber Dinah und ich sahen uns an und lachten "Er hört sich doch an wie der Kiezneurotiker, dann hat der gar nicht übertrieben. Vor uns sitzt der lebende Beweis".

Er wollte wissen, wer der Kiezneurotiker ist und ich meinte: "Würde ich auch mal gerne wissen, das gehört zu den großen Geheimnissen der Menschheit, aber er bloggt unermüdlich für den Weltfrieden über Radfahrer und andere schlimme Sachen in Prenzlauer Berg."

Er erzählte weiter, dass er seinen Mitarbeitern wegen seines Hasses auch den Wunsch nach Dienstfahrrädern abgeschlagen hat, es hackt wohl, hat er ihnen gesagt, die können zu Fuß gehen, oder Taxi fahren "Seht zu, wie ihr von A nach B kommt, aber mit dem Rad nur über meine Leiche."

Ich frage, wo er denn arbeitet.
Er nennt einen Fernsehsender. 
"Ach", sage ich, "und da bist du der Fahrradbeauftragte oder wie?" 
„Nee, der Geschäftsführer." 

Der Kiezneurotiker steht kurz vor dem Weltruhm, denn sein Bruder im Geiste hat seit heute seine Blogadresse. Falls er es am Ende nicht doch selber war.

Samstag, 28. November 2015

Früher war mehr Lametta. Nicht.

Als ich klein war, betete ich jeden Abend inbrünstig, dass ich zu Weihnachten ein goldenes Kleid bekomme. Und goldene Schuhe. Ich stellte mir vor, das Päckchen von Opa Berlin zu öffnen und endlich das ersehnte Glimmern zu entdecken. Damals war rosa noch nicht modern, eher gelb und kackbraun oder höchstens rot und blau. Kein Gold nirgends.

Außer im Schuhgeschäft. Meiner Mutter schleppte ich alle goldenen Schuhe an, die ich finden konnte. Sie machte mir nie den Gefallen, sie anzuprobieren, geschweige denn zu kaufen. Vielmehr ergriff sie Maßnahmen: zum einkaufen durfte ich nicht mehr mit. Vermutlich dachte sie, dass man ihr im Krankenhaus eine kleine Adelige untergeschoben hatte. Ich zumindest dachte das. Mit meinem Goldfimmel war ich eine Außernseiterin in der Familie und ich hatte niemandem, mit dem ich darüber reden konnte.

Mehr als zwei(!) Toiletten hatte meine Familie nicht zu bieten an Luxus in unserem schachtelkleinen Reihenhaus. Wir hatten nicht mal goldene Tapeten. Mir blieben nur die allabendlichen Gebete.

Später wurde das Dach ausgebaut und ich durfte mir die Farben für mein neues Zimmer aussuchen. Ich entschied mich für blau, die Fokussierung auf Gold war in Vergessenheit geraten. Von da an hatten wir "Das blaue Zimmer" - wie in Downton Abbey. Bis heute schlägt sich bei Heimatbesuchen alles darum, in diesem zu schlafen. Es wurde fast unverändert gelassen, es hat seinen Charme. 

Mein beruflichen Pläne waren im Alter von 11 klar umrissen; ich strebte nach ganz oben, weg aus Niedersachsen: als uns der Deutschlehrer fragte, was wir mal werden wollen, sagte ich: "Fernsehansagerin oder Eiskunstläuferin". Er sah mich an und brach in Gelächter aus. Er hatte seine Mühe, sich wieder zu beruhigen. Ich dachte, ich muss wohl sehr hässlich sein, wenn er so lacht. 

Ähnliche Ausbrüche von Heiterkeit hatte ich nur mal in Geschichte erlebt, als ich die Drei- Stände-Gemeinschaft der alten Germanen erklären sollte. Ich überlegte hin und her und sagte dann "Vater, Mutter, Kind". Die Lehrerin kriegte sich nicht mehr ein. 

Warum schreib ich das alles? Ach ja. Ich war einkaufen. Und da sah ich das hier:


in Größe 158

Zu spät, alles zu spät. In Gr. 158 passe ich nicht mehr rein.

Donnerstag, 26. November 2015

Blümeranter Vormittag

Hatte eine schrecklich blöde Nacht. Nach dem bloggen kroch ich mit letzter Kraft ins Bett und dachte so bei mir, das war keine gute Idee, heute Abend noch ein Stück Weltliteratur zu schreiben, obwohl die Akkus leer sind. Das rächt sich. Und es rächte sich. 

Ich baute mein Herzklopfen in einen Traum ein: eine Kollegin bekam einen Trotzanfall und sprang wie eine Dreijährige vor mir auf und ab, dabei machte sie jede Menge Lärm, aber das war nur mein Herz, das sich in mein Hirn verirrt hat. Ich wachte also um 2.16 wieder auf. Immer noch todmüde und immer noch hungrig, denn an Stehtischen esse ich wie ein Spatz, um der Bekleckerung vorzubeugen.

Stand auf, ging in die Küche und holte mir Vanillepudding ans Bett. Meine Ernährungsgewohnheiten bedürfen einer schonungslosen Überprüfung. Dann schlief ich weiter. Um 4.03 wurde ich wieder wach. Mir war sehr warm. Kein Wunder, die Wärmflasche köchelte vor sich hin unter der Winterbettdecke und der Sicherheitsdecke oben drauf. Ich öffnete das Fenster und kühlte runter. Ich schlief weiter bis halb sechs, dachte, jetzt kannste auch gleich aufstehen, entschied mich dagegen. Gegen halb acht stand ich auf, zerrüttet und zerschlagen. Lustlos frühstückte ich, als ich mich erhob, drehte sich die Welt. Ups, wass’n hier los?

Wie eine reiche Amerikanerin auf einem Kreuzfahrtschiff bei schwerem Seegang hangelte ich mich an der Wand lang ins Bad, erstmal Vitalzeichen überprüfen. Blick in den Spiegel: beide Pupillen gleich groß. Schon mal kein Hirnschaden. Ich sah einfach nur beschissen aus. Vorsichtig putzte ich mir die Zähne, aber es kommt er Moment, da muss man sich nach vorne beugen, außer, es macht einem nichts aus, sich vollzusabbern. Diesbezüglich kommt meine Zeit noch, da bin ich mir sicher.

Ich beugte mich also nach vorne und dann ging es wieder sehr karusselig zu im Oberstübchen. Ich lehnte mich halb schräg gegen die Wand, auch keine gute Idee. Stehen, geradeaus blicken, das ging. Ich beendete meine Körperpflege, so gut es ging, denn falls doch mal der Notarzt kommen muss, möchte ich gut duften, komme, was wolle (ich habe mir mal ungewaschen die linke Hand gebrochen, und zwar so gründlich, dass ich in den OP musste - das war mir eine Lehre).

Erstmal auf den Balkon, frische Luft schnappen. Da stand ich dann, stocksteif und schaute mit geradem Blick in die Landschaft. Das wird kein schöner Tag, ich musste mich damit abfinden. Ich rief stehend im Büro an und sagte stehend alle Termine ab. Dann stellte setzte ich mich kerzengerade auf’s Sofa.

Als Hobbypsychologin war mir klar, dass unmittelbar nach Krankmeldung die Wunderheilung einsetzen würde. Da hatte ich mich auch ein bisschen getäuscht. Bis 12 Uhr Mittags saß ich anmutig, mit astreiner Körperspannung und gleichzeitig rückenschonend auf der Couch, wie eine Sphinx. Jetzt ist alles wieder geschmeidig.

Mittwoch, 25. November 2015

Bastelnde Tippsen

Damit Hotels ihre Zimmer vollkriegen, laden sie um die Weihnachtszeit Tippsen ein, zum Adventskranzbasteln. Manchmal auch im Sommer, zum Spargel stechen in Beelitz (Gott, hatte ich ein Glück, dass es goss wie aus Eimern - so blieb nur das Spargel schälen und das Schnitzel essen in unerträglich feuchter Schwüle, ich wäre beinah verreckt). 

Ich komm da also hin, im Saal versammeln sich ca. 20 Frauen, wir binden Kränze, als ob es kein Morgen gibt. Ich sitze am Tisch mit vier Frauen, die alle aus einer Firma kommen. Die eine hat einen mächtigen Busen und ist die Lustigste von allen. Begabt ist sie auch, wenn auch nicht geschmackssicher. Aber sie hat mir eine hübsche kleine Schleife aus Samt gebunden. 

Dann werden wir zum Buffet geführt, warmes Essen an Stehtischen eingenommen - ich kann mir kaum etwas Grausigeres vorstellen. Zu mir gesellt sich der Sales Manager und textet mich zu. Ist ja klar, und ich sage ihm, dass es mir leid tut, dass er jetzt dieses Gespräch mit mir führen muss, wo er doch weiß, dass ich nur auf der Suche nach einem Private Dining Room bin, den dieses Hotel nicht hat, wie schon im Mai geklärt wurde (Beziehungsweise haben die den schon, aber er ist von solch berückender Hässlichkeit, dass ich einen Kopf kürzer gemacht würde, sollte ich meine Bosse je dort einquartieren. Ich stelle mir vor, dass das ZK der SED in solchen Räumen getagt hat. Nichts für meine Herren, die lieber ins Soho House  gehen.)

Jedenfalls ist er erleichtert und erzählt von den schweren Arbeitsbedingungen in der Hotellerie; ich höre mir das geduldig an, alles ist besser, als Verkaufsgespräche nach Feierabend, stehend und essend - du meine Güte, was hab ich mir eigentlich dabei gedacht?

Naja, ich hatte mir gedacht, ich muss öfter ausgehen. Also über den üblichen Programmpunkt "Freunde treffen" hinaus. Mal was anderes sehen. Gestern war ich nämlich aus und kurz vorher wollte ich wie immer absagen, weil ich so grottenmüde war, dass mich schon mehrmals Sekundenschlaf übermannte. Aber dann wurde es doch ein schöner Abend, also beschloss ich, daraus zu lernen und eben öfter wegzugehen.  

Ich hab gleich wieder was gelernt: mit einem Mann zu Idil Baydar zu gehen, ist weitaus angenehmer, als Adventskränze im Kreise von Sekretärinnen anzufertigen. Mir tut der Rücken weh, denn die hatten keine Gesundheitshocker swopper TITAN dort stehen, sondern schnöde Konferenzstühle - während ich gestern auf Kinobstuhlung mit Beinfreiheit lagerte. 

Tja, und dann, nach der Hausbesichtigung, die ich dem Sales Manager nicht abschlagen konnte, bekam ich auch noch Augenkrebs, als er uns in den "Lounge Club" führte. Ich habe natürlich Beweisfotos gemacht, aber die stelle ich hier aus Liebe zur Menschheit nicht rein. Schlamm und Kunstleder. Ich stelle mir vor, dass Erich Honecker in sowas gesessen hat, wenn er aus dem ZK der SED nach Hause gekommen ist. 

Aber immer noch war des Leidens kein Ende. Als ich endlich im Auto saß, mir eine Zigarette anzündete und losfahren wollte, fuhr ich 30 Meter und schon stand ich wieder. Ich stand die nächsten 2 Kilometer, die Potsdamer Straße ist eine Geißel der Menschheit. Natürlich nicht für mich, sowas lass ich mir ja nicht bieten. Ich dreh um und fahre Umwege über Umwege, Hauptsache ist: ich fahre.

Sonntag, 22. November 2015

Neumodische Eltern

Ich bin Großtante geworden. Ein Sonntagskind, wie ich.

Nicht, dass ich das Baby gesehen habe. Die jungen Eltern verbitten sich störende Einflüsse von außen, die ersten drei Wochen. Das ist modern und nennt man Baby-Flitterwochen. Gut für die Bindung zwischen Mutter, Vater und Kind.

Fotos machen sie auch nicht und wenn doch, verschicken sie sie nicht. Ich bin frustriert. Die ganze Familie ist frustriert. Einzig meine Schwester, die frischgebackene Oma, ist nicht frustriert, denn sie durfte schon zweimal hin. 

Sie hat ein Foto geschickt, auf dem man nichts erkennt. Man kann Fotos von Babys machen, auf denen man nichts erkennt, das geht. Sie hat's bewiesen. Es soll aber sehr hübsch sein. Und so lieb und entspannt. Wie schön für sie.

Die Graue Eminenz hat angerufen, wann man das Baby sehen kann. No chance, sage ich, in drei Jahren vielleicht. Er ist frustriert. Dabei hat er mir zugeraunt, kurz vor der Geburt, sag mir Bescheid, wenn es los geht, nicht erst, wenn das Baby da ist, wenn es losgeht, hörst du? Willst du hin, frage ich ihn. Logisch.

Zwei Tage, nachdem das Baby da ist, erfahre ich überhaupt davon. Erfahren wir alle davon. Per sms. What else. Außer meiner Schwester, die sich an das Schweigegelübde gehalten hat. Die wusste Bescheid. Ist tagelang nicht ans Telefon gegangen, um nichts zu verraten. Natürlich. Sie wird mir unsympathisch. Meine Nichte auch. Sogar das Baby, so frustriert bin ich, weil ich es nicht mit Liebe überschütten darf, wenigstens für eine halbe Stunde. Der Kindsvater bleibt sympathisch, weil er der einzige ist, der auf sms antwortet. Fotos schickt er aber auch keine, so nett ist er auch wieder nicht.

Freunde fragen, wann es denn mal ein Foto gibt. Ich weiß es nicht. Vielleicht zum Abitur? Meine Mutter fragt täglich, ob ich denn schon ein Foto habe und falls ja, weshalb ich es ihr noch nicht weitergeschickt habe, zu was hat sie denn nun ein Smartphone?

In zwei Wochen kommt die ganze Mischpoke zu mir nach Berlin, zum Adventsbacken. Die Tochter meiner anderen Schwester bringt das ganze Arsenal an Dingen mit, die sie für das Baby seit Monaten angefertigt hat (sie ist mit ihren 10 Jahren die Näherin vor dem Herrn - wir haben alle gefütterte Handytaschen mit Druckknopf), und hat angedroht, alles wieder mit nach Hause zu nehmen, wenn sie das Baby nicht zu sehen bekommt. Die Familie ist kurz vor dem auseinanderbrechen.

Die Eminenz schnaubt, seinerzeit hat er die ganze Welt informiert, da war die Nabelschnur noch nicht abgetrennt. Und dann hat er sich mit seinen Kumpels besoffen, das ging, weil die Kindsmutter noch ein paar Tage im Krankenhaus blieb, um sich zu erholen. Kaum war sie zuhause, gaben sich die Freunde die Klinke in die Hand, um dem Baby zu huldigen, was die Kindsmutter zugegebenermaßen an den Rand ihrer Kräfte brachte, aber hinterher werden das die schönsten Erinnerungen, das weiß man doch. 

Heute packen die eine Viertelstunde nach der Geburt das Kind ein und fahren nach Hause. Und dann verriegeln und verrammeln sie die Bude und lassen niemanden rein. 

Ich glaub, ich ruf das Jugendamt an. Vielleicht können die uns weiterhelfen. 

Mittwoch, 18. November 2015

Ich rede, also bin ich

Morgen habe ich einen großen Tag. Ich muss eine Rede halten vor 100 Leuten. Rede mir die ganze Zeit ein, dass das wunderbar ein Desaster wird. Stelle mir vor, wie ich ganz gelassen nach vorne gehe und die Zuhörer mit Charme und Wortwitz am einschlafen hindere gar nicht nach vorne gehe, weil ich mit Kammerflimmern zusammensinken und mich als verantwortungsvolle Ersthelferin noch vor Eintreffen der Feuerwehr selbst defibrilatieren werde.

In Kleingruppen halte ich außerhalb offizieller Anlässe andauernd Reden. Kein Mensch kann mich stoppen. Ich hab zu allem eine relevante Meinung und halte damit nicht hintern Berg.

Sobald man eine Bühne auf- und mich draufstellt, gehen bei mir die Lichter aus. 

Schon jedes Chorkonzert bringt mich an meine Grenzen. Ich führ mich auf wie die Callas von Tempelhof. In all den Jahren ist es nie besser geworden, und während des Konzertes wird es immer schlimmer. Bei mir gibt es kein "wenn ich erst auf der Bühne stehe, ist das Lampenfieber wie weggeblasen". Im Gegenteil, dann geht es erst richtig los. Obwohl ich mich immer ganz unten, ganz außen platziere, damit ich mich zur Not unauffällig unters Publikum mischen kann, wäre mir doch am allerliebsten, man würde eine Stellwand um mich herum aufbauen. 

Einmal hatten wir ein Konzert, bei dem wir 70 Minuten ohne Pause stehen bleiben mussten. Stehen ist ja ganz schlecht bei Lampenfieber. Ja, wenn mich jemand auf den Schoß nehmen würde, an dessen Schulter ich mich lehnen könnte, mit der Stellwand vor mir, dann könnte ich singen, als gäb's kein Morgen. Unser Chorleiter akzeptiert jedoch keine Stellwände und meinen Wunsch nach einem Barhocker, damit es wenigstens so aussieht, als stehe ich, hat er mir auch nie erfüllt. Er hat nur geschnaubt. Den Rat eines mitsingenden Arztes, kurz vor dem Beginn des Konzertes so zu tun, als würde ich kackend auf dem Klo sitzen, weil das den Herzschlag reduziert, habe ich nicht befolgt - wie sieht denn das aus? 

Keine Ahnung, wie ich da morgen durchkomme. Da ich die ganze Nacht kein Auge zumachen werde, schlafe ich vielleicht ein, während ich spreche. Das gäbe mir immerhin einen gelassenen Anstrich. Vielleicht kauf ich mir in der Früh noch Tena-Lady, dann kann ich die Kack-Übung machen und bin dabei auf der sicheren Seite. Vielleicht akzeptiert das Publikum auch, dass ich hinter dem Vorhang bleibe und meine Stimme aus dem Off kommt. 

Oder ich trete wie Madonna mit Voll-Playback auf, was vielleicht eine Übersprungshandlung nach sich zieht und ich dem Vorredner meine Zunge in den Hals stecke. Der würde sich vielleicht unsterblich in mich verlieben, weil endlich mal eine Frau die Initiative ergreift. Er dürfte halt nur nie erfahren, dass ich dabei Tena Lady getragen habe. 

Sonntag, 15. November 2015

MAMIHLAPINATAPEI oder: was Männer wissen sollten


"Das Austauschen eines Blicks zwischen zwei Personen, von denen jeder wünschte, der andere würde etwas initiieren, was beide begehren, aber keiner beginnen will." * 

Kann ich ein Lied von singen. Erst vorgestern wieder. Freitags überfiel mich Großzügigkeit. Ich renn während der Arbeitszeit zum Supermarkt, um Schokolade für alle zu kaufen. Ich war so begeistert, dass das Wochenende naht. 

Komme zurück, steht ein Auto auf dem geheimen Parkplatz am Hinterausgang, lehnt ein Mann, ach was sag ich, ein Gottesgeschenk, aber wirklich, ganz objektiv gesehen, also, da lehnt ein Mann am Auto, so lässig und sich seiner atemberaubenden Wirkung auf alles, was kreucht und fleucht bewusst bis in die letzte Körperzelle, und lächelt mich breit an, wie es sich für ein Gottesgeschenk gehört.

Ich lächle zurück und dann wende ich den Blick schnell ab und lächle in mich hinein, nein, Quatsch, ich lächle den Boden an, aber auf eine gewinnende Art, dem Boden wurde schon ganz schwummrig. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ich ansprechbar bin, egal, wie hastig ich an ihm vorbeilaufe. Je hastiger, desto ansprechbarer. Nur mal so als Info. 

@ Männer: wenn ihr lächelt und sie lächelt zurück, steht einer späteren Hochzeit nichts mehr im Weg, aber nur, wenn sie schnell weiter geht. Bliebe sie gleich stehen, verwechselt sie euch nur mit ihrem Cousin. 

* (MAMIHLAPINATAPEI - Bedeutung in der Sprache der Yámana, einem auf Feuerland lebenden Volk) Von Malte Welding kann man lernen. 

Martinsgans

Martinsgansessen in der Scheune mit Bling Bling, meiner von oben bis unten juwelenbehangenen Kollegin.

Mischung aus Kollegen, dem Schwiegermonster und einem Studienfreund von Bling Bling, offenkundig schwul, aber von Studentenzeiten bis heute hat er das nie eingestanden. Die beiden umschiffen das Thema und unterhalten sich immer nur über Ballett. Er lässt junge "Bekannte" bei sich wohnen, die Balletttänzer sind und aus Russland kommen. Manchmal verschwinden sie über Nacht, dann ist er traurig, weil sie keine Adresse hinterlassen und er wieder allein ist. 

Ich gehe jede Wette ein, dass da nie was läuft. Er ist nur wenig älter als ich, hat aber einen Hals wie ein Truthahn und dieselben Hautprobleme wie Charles Bukowski (eigentlich wollte ich Westerwelle schreiben, aber das fand ich zu pietätlos). Neuerdings färbt er sich die Haare blond und kämmt sie sich ins Gesicht; ein vor der Zeit gealterter, schwuler Justin Bieber, der, als seine Mutter noch nicht dement im Pflegeheim lebte, seine Urlaube mit ihr auf Kreuzfahrtschiffen verbrachte. Das waren noch schöne Zeiten, sagt er. Er ist sehr freundlich und mäkelt am Essen und am Wein herum, weil er kultiviert wirken will. 

Der Ehemann von Bling Bling sitzt neben mir und erzählt mir Szenen aus Monty Python Filmen nach. Nun gibt es für mich nichts grausameres, als Filme nacherzählt zu bekommen, also nutze ich die erstbeste Gesprächspause und sage, dass ich mal nach draußen gehe, um zu rauchen. "Ich komme mit", sagt er, Bling Bling guckt irritiert. Ich möchte mit dem Kopf auf den Tisch knallen, flüchte ich doch vor allem vor seinem Sprechdurchfall. Draußen zückt er sein Handy und hält es mir vor die Nase, hier, sagt er, das ist die Szene, Der lustigste Witz.

Enervierende fünf Minuten scheppert es aus seinem Handy, die anderen Raucher fühlen sich belästigt, ich mich auch, er hat es auf volle Lautstärke gestellt, sein Arm muss ihm eigentlich abfallen, denn ich nehme sein Handy nicht in meine Hände, sondern schaue mir das Filmchen aus größtmöglichen Abstand an. Ich könnte schreien, womit habe ich das verdient, erst muss ich mir das anhören, jetzt auch noch ansehen, dabei muss mich niemand von Monty Python überzeugen, jeder, der bei Verstand ist, findet die gut. Er sucht immer wieder meinen Blick und lacht dann, gut, oder?

Ich rauche extra langsam, damit er bloß vor mir wieder reingeht, ich will ein paar Minuten allein sein. 

Später tauscht er den Platz mit seiner Mutter, so sitze ich neben der 96 jährigen Frau, die jetzt höflich Konversation mit mir treibt. Sie lehnt das Dessert ab, lieber sei ihr ein Stück Konfekt und ein Wodka dazu, was sie dann wieder sympathisch macht. Sie nuschelt so stark und redet so leise, dass ich praktisch kein Wort verstehe, aber als über einen nicht anwesenden Freund gesprochen wurde, wird sie energisch, der war ja schon immer komisch, schon als junger Mann und erzählt, wie sie im Fernsehen das Attentat auf Reagan sah und die Nachricht wichtig genug fand, ihren Sohn zu informieren. Sie ging in sein Zimmer, um Bericht zu erstatten. Der Komische war zu Besuch und sagte nur "Na und?" Da hatte er natürlich verschissen. 

Als wir aufbrechen, nimmt mich Justin Bieber zur Seite und fragt, ob ich nicht mal Lust hätte dabeizusein, wenn er für Bling Bling und ihren Gatten Raclette macht. Aha, eine Alibi Frau muss her, der Ärmste tut wirklich alles, um sein Schwulsein zu verbergen, dabei wissen es doch sowieso alle. Ich sage freundlich 'Aber gerne' und möchte zur Kompensation und Seelenreinigung einen der Teelichtbehälter klauen, mach es aber nicht wegen Schwiegermonster. Sie ist kein Typ, mit dem man Pferde stehlen kann.

Samstag, 14. November 2015

Mikroskopisch kleine Schwänze

Anders kann ich mir das nicht erklären. 

Nein, das ist eine unzulässige Verniedlichung. Bestenfalls eine Metapher für Persönlichkeitsstörungen, die sich entwickeln, wenn man nur oft genug traumatisiert wurde und willens und in der Lage ist, seine Ohnmachtsphantasien zu wandeln, kulminiert in ein minutiös konzertiertes Massaker. 

Ich entwickle so meine eigenen Ohnmachtsphantasien. Das hilft aber auch niemandem weiter. Nichts hilft, fürchte ich.

Donnerstag, 12. November 2015

Mein Vater, der Problembär

Vor einer Woche bekam ich die Nachricht, dass mein ewig spöttelnder Onkel W. gestorben ist, mit 87 Jahren ist er nach dem Mittagsschlaf einfach nicht mehr aufgewacht. Seine Frau ist die älteste Schwester meines Vaters, der wiederum das jüngste Geschwisterkind ist, ein Nachzögling. 

Ich sprach mit meiner Cousine, dass ich aus Berlin anreisen werde und im Heimatkaff ins Auto meines Vaters steigen werde und somit die letzten anderthalb Stunden kutschiert werde. Mein Vater überraschte mich am Telefon mit eisiger Kühle in der Stimme, nein, er werde nicht fahren, sein Knie. Ich war irritiert, denn er ist ein Berufsjugendlicher, wie er im Buche steht, von einem Knie lässt er sich gewöhnlich nichts vorschreiben. 

Ich fragte besorgt, ob es ihm auch sonst gerade schlecht gehe, er bejahte, es ginge ihm gar nicht gut. Seine Kälte und abweisende Haltung schuldete ich einer offenbar akut schlechten Minute, in der ich ihn erwischt hatte. Dafür habe ich Verständnis, und machte mir ein bißchen Sorgen, denn obwohl er keinen Tag älter als 64 aussieht, ist er dennoch Mitte Siebzig.

Ich sagte meiner Cousine wieder ab, weil mein Vater nun doch nicht kommen würde, und die ganze Strecke an einem Tag hin und zurück würden zwar meine Knie mitmachen, aber nicht das Winz-Auto, dass mein Eigen ist. 

Heute erfuhr ich, dass er sehr wohl bei der Beerdigung war und so rief ich ihn an, weshalb er mich denn nicht informiert hat, dass er doch fährt, ich wäre doch so gerne mitgekommen.

Und dann folgte der vorläufige Schlusspunkt meiner ohnehin nicht leichten Vater-Tochter-Beziehung, ich fasse mal zusammen: 

"Weil ich dich nicht mitnehmen wollte. Das ist eine Beerdigung im engsten Familienkreis gewesen, da müssen nicht irgendwelche Leute kommen, das macht alles nur noch schlimmer, du wärst nur eine Belastung für deine Tante gewesen. Außerdem habe ich keine Lust auf dieses Gelaber. Und weisste, dass du deine Cousine gleich anrufst, dass ich nicht komme, du spinnst wohl. Wenn du keine Lust hast zu kommen, dann sag ihr das, aber halt mich da raus. Ich hab dir schließlich nicht verboten, zu kommen, ich will dich einfach nur nicht in meinem Auto mitnehmen. Du lebst dein Leben, ich leb meins. Und du würdest mich auch nicht in deinem Auto mitnehmen." 

Mein Vater wird also irre. In all diesen Sätzen ist soviel Irrsinn verborgen, quatsch, nicht verborgen, Irrsinn bahnt sich seinen Weg. Man kann Irre ja nicht verstehen, außer, man ist selbst irre und nun übe ich mich fleißig im entpersonalisieren und versuche, das nicht persönlich zu nehmen, obwohl er selten so persönlich geworden ist, wie eben. 

*schluck*

Mittwoch, 11. November 2015

Die offene Beziehung

"Keine Kinder mit bescheuerten Vornamen an Bord" las ich auf einem Aufkleber an einem Auto, auf dem Weg ins Büro, kurz nachdem ich in der Zeitung gelesen hatte, sinngemäß "Man sagt immer, dass Verstorbene in den Herzen ihrer Lieben weiter leben, ich möchte aber lieber in meinem Appartment weiterleben", ein Zitat von - na wem wohl - richtig, Woody Allen.

Schon früh am Morgen zweimal gelacht, der Tag fing gut an. Von da an ging's bergab, aber abends wurde es wieder besser, denn ich lese ein Buch von Malte Wedding und gleich zitier ich draus:


Die offene Beziehung

Bei der offenen Beziehung ist es wichtig, dass sie offen ist, und eine Beziehung sollten die Partner auch möglichst miteinander haben. Häufig ist beides nicht gegeben. Ein entfernter Bekannter, bekennender Sozialist und Armutsforscher, war sich mit seiner Freundin völlig einig, dass sexuelle Treue ein Kontrollinstrument der Bourgeoisie sei, oder so - er sagte sehr oft "Bourgeoisie" und "oder so", vielleicht haben sie es ja auch nie gesagt, jedenfalls hatte sie es nicht so gemeint. Das stellte sich heraus, als er nach jahrelanger Treue aus Mangel an Gelegenheit ein Verhältnis mit einem seiner Forschungsobjekte anfing. Der Zeitpunkt war etwas unglücklich gewählt, denn seine Freundin war im siebten Monat schwanger, und ihre ideologische Moral litt unter hormonellen Wallungen. Sie wusste einfach nicht mehr, was Marx zum Fremdgehen gesagt hatte, und klang, wenn sie ihn zusammenbrüllte, verdächtig nach Benedikt XVI

Mehr darf ich bestimmt nicht schreiben, ohne mir eine Millionenklage an den Hals zu zitieren, aber für alle, die sich auch bestens amüsieren wollen, hier der (zugegeben dümmliche) Titel: "Frauen und Männer passen nicht zusammen - auch nicht in der Mitte"

Samstag, 7. November 2015

Geschenke

Bernstein ist ein fossiles Harz aus organischem Material und bildete sich im Erdzeitalter des Tertiär, also vor 25-35 Millionen Jahren. Damals entstand auch die Braunkohle. Das Harz tropfte von riesigen Nadelbäumen. Wenn man das kleine Herz gegen das Licht hält und mit einer Lupe betrachtet, lässt sich ein Insekt erkennen, das in diesem Harztropfen - vielleicht von einem Mammutbaum - eingeschlossen wurde und versteinerte. 

Dieser kleine Brief lag einem kleinen Bernstein-Herz an einer Kette - einem Geburtstagsgeschenk für die Tochter einer Freundin - bei. Sie wurde 13 und kicherte sich mit ihren Freundinnen halb tot. Die Geschenke unseres stets laut mit sich selbst redenen Nachbern, dem emeritierten Professor L., sind auf ihre Art so liebevoll wie aus der Zeit gefallen. Ich schätze es, wenn Menschen derlei wissen, ohne es googlen zu müssen.

Der Professor lebt seit über 40 Jahren in seinem kleinen Bungalow, ohne jeden Komfort, mit einer maroden Heizung, die im Winter höchstens eine Raumtemperatur von 18 Grad schafft, mutterseelenallein und unterhält sich mit jedem Schnitzel, das er brät. Er hat in einem anderen Teil Berlins ein riesiges Haus, in dem niemand lebt und das er ab und an besucht, wahrscheinlich um die neuen Staubflusen zu begrüßen. 

Wir wissen nicht, weshalb er an seinem papierdünnen Bungalow festhält und vermuten eine unerwiderte Liebe zu seiner Vermieterin, aber die lebt nun auch schon seit vier Jahren im Altersheim, dement, aber munter - ihr Haus, in dessen Garten sein Bungalow steht, ist verwaist. Nur der Gärtner kommt und pflegt den englischen Rasen.

Nachdem wir ihn daran gewöhnt hatten, dass er begrüßt wurde, was ihn anfangs zu Tode erschreckte, fasste er eine Zuneigung zur Tochter meiner Freundin. Seine Zuneigung erweiterte sich auf ihre im Garten gehaltenen Kaninchen, aber auch er schaffte es nicht, dass die sich wie normale Kaninchen benehmen, obwohl er wirklich viel mit ihnen sprach. Das eine war ein gewalttätiges Borderline-Kaninchen, das andere dessen zerrupftes Mobbingopfer.
 
Als er anfing, dem Kind Geburtstagsgeschenke zu überreichen, bat ihn meine Freundin an den Kaffeetisch. Daraus wurde jedoch keine Tradition, denn er dozierte ohne Punkt und Komma und sprengte die Familientafel, die dazu verdonnert war, ihm stundenlang zuzuhören; erschwerend kam hinzu, dass er jeden Blickkontakt meidet. 
 
Er hat dem Kind nicht nur die Bernstein-Kette geschenkt, sondern alle Werbegeschenke, die er im Laufe des letzten Jahres gesammelt hat, unter anderem einen Notizblock, den er augenscheinlich schon zur Hälfte aufgebraucht hat, sowie diverse Firmen-Kugelschreiber und Kästners Kinderbuch 'Als ich ein kleiner Junge war' - was von allen Erwachsenen, die auf sich hielten, goutiert wurde. 
 
Natürlich, alle behaupteten, Kästner gelesen zu haben, aber ich habe außer dem 'Doppelten Lottchen' nur Hanni & Nanni gelesen und träumte mich meine ganze Kindheit in ein Internat, nachdem ich den Traum aufgegeben hatte, dass es irgendwo eine Zwillingsschwester von mir gibt, die nur gefunden werden musste. Ich hatte Grund zu dieser Annahme, denn ich bin die einzige Blonde in meiner Familie und wenn immer meine Mutter mit uns einkaufen ging, fragten alle, ob ich das Nachbarkind sei.  
Ich trottete dann immer traurig neben meiner Mutter und meinen Schwestern nach Hause, denn das war ja nicht meine richtige Familie. Je öfter ich angesprochen wurde, desto klarer wurde mir, dass ich adoptiert bin; es war nur eine Frage der Zeit, dass sie mir das endlich sagen würden, wo es doch schon alle Menschen auf der Straße wussten. "Das doppelte Lottchen" befeuerte meinen Verdacht und heute bin ich ganz froh, dass ich niemals "Als ich ein kleiner Junge war" gechenkt bekam, wer weiß, was ich mir dann eingebildet hätte.
 
Ich hoffe, das Buch richtet keinen Schaden bei der nunmehr Dreizehnjährigen an, aber wir müssen die Augen offen halten. Bei einer Ballettaufführung vor drei Jahren war sie in einer orientalisch anmutenden Szene untergebracht. Ich suchte angestrengt nach ihrem Gesicht in der Gruppe Mädchen, die wie die "Bezaubernde Jeannie" gekleidet waren. Was anderes kam für mich nicht in Frage, denn sie ist ein bildhübsches Kind, das fleischgewordene Schneewittchen. "Wo ist sie denn?" - "Sie ist die Grüne." - "Nicht möglich!" 
 
Die Grüne war der Grüne und zwar der Palmwedler. Sie wedelte mit einem großen Palmenblatt über dem Sultan und machte ab und an einen Ausfallschritt. Für ihre Mutter ein Moment der Wahrheit. Sechs Jahre Ballett hatten aus ihrer Tochter das Kind gemacht, für das eine Bühnenrolle gefunden werden musste, in der es nicht allzuviel Schaden anrichten konnte. 
 
Insofern: Kästner ist durchaus mit Vorsicht zu genießen. Aber das konnte der Professor nicht ahnen.

Mittwoch, 4. November 2015

Ja, ja, die Liebe in der Schweiz...

Wenn ich was zu sagen hätte, dann dürften gegen 23 Uhr nur Filme wie "Über den Dächern von Nizza" laufen, ohne Werbeunterbrechung.

Ich schau nämlich nur fern, wenn ich ins Bett gehe, bzw. schalte ich den Sleeptimer an, aber nur ARD oder ZDF, weil dort um die Zeit nur Nachrichten oder Talkshows laufen, ohne Schusswechsel oder Geschrei von Leuten, die in einen Schusswechsel geraten sind. Dann  gleite ich bei Hintergrundgebrabbel sanft hinüber in verschiedene REM-Phasen

Wie komme ich da jetzt drauf? Mir erzählte ein Freund, dass seine 80 jährige Mutter kürzlich Geburtstag hatte und ihr zu Ehren wurde was Schönes gekocht und anschließend "Die oberen Zehntausend" geguckt, weil das ihr Lieblingsfilm ist. Sie war sehr glücklich und alle anderen auch.

Mich wundert das nicht, denn wann immer ich so eine alte Schmonzette zu sehen bekomme, bin auch ich restlos zufrieden. Diese Klamotten.... und die gar nicht mal so schlechten Dialoge. Und die Farben und Grace Kelly, mich beruhigt das alles sehr. Neujahr wird erst so richtig schön, wenn ich mir völlig übermüdet die "Zürcher Verlobung" ansehe, der läuft fast immer am 1. Januar.

Sonst laufen diese Filme kaum noch oder ich bekomme es nicht mit, weil ich nicht fernsehe; jedenfalls laufen sie nicht, wenn ich ins Bett gehe. 

Kürzlich habe ich bei Glumm gelesen, dass er gerne "Aktenzeichen XY, ungelöst" sieht, wenn seine Gräfin nicht hinsieht, und da kann ich sie gut verstehen, denn das dröge "Leider kein Einzelfall" von Ede Zimmermann hat mich schon immer mitsamt der immergleichen Dramaturgie zu Tode gelangweilt, aber dass ein beruhigender Sog von Dingen ausgeht, die nicht hektisch daherkommen und einen an früher erinnern, kann ich nachvollzhiehen. 

Männer lassen sich halt von anderen Dingen hypnotisieren als Frauen. Sie sind gerne Mördern auf der Spur oder wollen was kombinieren oder spüren eher als jeder andere im Land, dass sich demnächst große Dinge ereignen werden; wie ein Exfreund von mir, der sich verbissen "Die aktuelle Kamera" anschaute, sogar "Der schwarze Kanal" und dabei immer murmelte "Die Mauer wird bald fallen", womit er letztendlich recht behielt, ich jedoch einen Preis dafür zu zahlen hatte, denn wir hatten nur eine Glotze und er von Geburt an die Hoheit über die Fernbedienung. 

Als die Mauer dann endlich ihm zu Ehren fiel, schaute ich ihn bewundernd ob seiner unbeirrbaren Weitsicht an und noch in der Nacht fuhren wir zur Inavlidenbrücke, wo er im vorbeigehen Eberhard Diepgen beleidigte, dem ich widerum 25 Jahre später sagen konnte, dass ich ihn das erste Mal am 9. November 89 gesehen habe, woran er sich sicher nicht erinnert, und dass ich schon ein bißchen gerührt bin, dass ich ein Vierteljahrhundert später eine Veranstaltung organisiere, auf der er einer der Hauptgäste ist.

Zurück zum Thema: ein Kollege erzählte mir, dass er am liebsten alte "Derrick"- Folgen sieht, oder "Der Kommissar", wegen der endlos langen Einstellungen. Außerdem sei er von der Schauspielkunst begeistert. Nun ja. Schauspielkunst würde ich es wohl nicht nennen. Aber alles ist besser als das, was heute an hirnerweichenden Abendbrei produziert wird. 

Ja ja, die Baby Boomer, sie wünschen sich zurück... Es ist November, da brauchen sie technicolor.

Sonntag, 1. November 2015

So wird das nix

Treffen an der Marheineke Halle. Ich hab noch etwas Zeit und gehe rasch auf den Friedhof, auf dem seit einigen Jahren ein sehr lieber Mensch begraben liegt. Der Versuch eines Zwiegesprächs mit der Person, die unter der Erde liegt, sehr halbherzig, denn ich muss auch meine Mails checken, was ich natürlich gar nicht muss, es aber trotzdem tu, Kind meiner Zeit, ewig der Blick aufs Handy, selbst hier - was erwarte ich eigentlich ständig? 

Dann zur Halle, Freundinnen treffen. Es wird beschlossen, Lotto zu spielen. Ist das nix für alte Leute, die Applikationspullover und Ballonseide tragen? Aber ich hab gerade einen Lauf. Erst die erfreuliche Heizkostenrückzahlung, dann knapp 700 € für meine Beule am Auto. Das ist ein Zeichen. Ich mach mit.


Ich geh in die Halle zum Lottoladen und begegne dem Acht-Stunden-Date. Wir begrüßen uns so beiläufig, als lebten wir seit 40 Jahren im selben Kuhkaff. Reden belangloses Zeug. Er hatte mal einen Vierer mit Zusatzzahl, also ganz nah dran, aber nur 29 € gewonnen, oder waren es 129 €? Erzählt von seinem Sohn, dem er wünscht, dass mal die Richtige kommt und ihn sich einfach schnappt. Ich grinse: "Ja, wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre." Dann verabschiede ich mich. "Man sieht sich" ruft er mir hinterher. Bestimmt.

Der Lottomann wünscht mir Glück. Ich geh zurück zu meiner Einheit.

"Wer nimmt denn die Quittung in Obhut?"
"Ich."
"Du? Nee, du hast zuviel kriminelle Energie. Nachher gewinnen wir und erfahren nix."
"Oh, du bringst aber Schwung in die Sache."
"Solange sie die richtigen Zahlen ankreuzt, kann sie reinbringen, was sie will. Aber wir machen besser ein Beweisfoto."


Tja. Leider bin ich nicht auf dem Foto. Von den Millionen werde ich keinen Cent sehen. Die anderen aber auch nicht. Wir haben einen Zweier. Mein Horoskop hat mal wieder gesponnen. Das ist doch kein Durchbruch!