Montag, 11. Februar 2019

Das stille Mädchen

Beim Friseur sitzt eine Frau neben mir, was an sich nicht erwähnenswert ist, hätte sie nicht ihre kleine Tochter dabei gehabt, ca. 2-3 Jahre alt, die sie der Einfachheit halber einfach auf den Boden setzte zwischen uns beide, unter den Frisiertisch, der über die gesamte Wandbreite ging; an ihm ca. sieben Stühle, die alle besetzt waren.

Dieses Kind blieb dort über eine Stunde einfach sitzen. Muckste nicht, rührte sich nicht, schaute nur aufmerksam in den Raum. Das einzige, was es machte, war, mit den eigenen Händen zu spielen, so in der Art, wie wenn Erwachsene Däumchen drehen, also ohne hinzusehen. Kinder drehen dann etwas ungelenker die ganze Hand.

Als ich aufstand, zum Waschbecken rüber ging, damit mir die Farbe aus den Haaren gewaschen wird, konnte ich das Kind von vorne sehen. Dessen Mutter war ein paar Minuten später fertig und stand auf. Gemeinsam mit der Frriseurin betrachtete sie ihre Haare. Ihr Kind stand auch auf. Da befand die Mutter, die Friseurin müsse im Nacken noch etwas nachschneiden und setzte sich wieder.

Das Kind blieb stehen, lehnte sich nur einfach gegen die Wand, drehte seine Hände und schaute weiter aufmerksam und mucksmäuschenstill in den Raum oder zu seiner Mutter. Es war kein Anzeichen von Ungeduld oder Unruhe oder Bewegungsdrang zu erkennen, nur Geduld und Ergebenheit, aber in Form von Ergebenheit eines erwachsenen Menschen. In seinem ganzen Habitus war rein gar nichts kindliches mehr.

Ich war mittlerweile so geflasht von diesem kleinen Mädchen und außerdem den Tränen nahe. Dass man einem so kleinen Menschen schon jede altersgerechte Regung abgewöhnt hat - was musste man getan haben, um so ein Ergebnis zu erzielen? Die Mutter hatte keinen Blick für das Kind übrig. Eine scheinbar völlig natürliche Interaktion zwischen den beiden. Die Mutter beschäftigt mit sich und das Kind beschäftigt mit gar nichts und so auffällig unauffällig dabei, dass es zumindest mit das Herz zerriss.

Als die Mutter endlich mit ihrer Frisur zufrieden war, nachdem sie sich noch lange im Spiegel betrachtet hatte, sich immer wieder durch die Haare fuhr, machte das Kind einen  kleinen Schritt auf sie zu und legte eine Hand auf den Stuhl der Mutter und sah mit diesem aufmerksamen Blick hoch, wohl um den Augenblick nicht zu verpassen, in dem die Mutter (weiterhin ohne jeden Blickkontakt zum Kind) dessen Hand ergriff und zur Kasse ging.

Ich war indessen gewiss, dass hier ein Fall für das Jugendamt vorliegt. Anderen, vor allem den Friseurinnen, fiel ebenso auf, was das "für eine süße Kleine" ist und "so geduldig - habt ihr das gesehen?" Oder total frustriert, bestenfalls, dachte ich und kämpfte weiter mit den Tränen. In meinem ganzen Leben habe ich kein Kind wie dieses gesehen. 


Später am Abend im Kino sah ich "Der Junge muss an die frische Luft", dann war's vollends um mich geschehen. 




17 Kommentare:

  1. Seltsam, ich hab das ganz anders interpretiert als du. Dachte: Wow, es gibt heute Kinder, die nicht ständig im Mittelpunkt des Interesses stehen müssen, Kinder, die nicht fortwährend "bespasst" werden müssen, sondern erstaunliche Kids, die einfach nur ihre Umwelt beobachten und keinen Stress machen...

    Vielleicht entwickelt sich die Menschheit ja doch weiter, dachte ich beweundernd. Und du sagst, das wär "ein Fall fürs Jugendamt"...

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    1. Nun ja, Kinder die Stress machen, haben in der Regel Eltern, die noch viel stressiger sind. Einem Kind vorzuwerfen dass es stressig ist, trifft den absolut falschen Adressaten.

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    2. Den obigen Kommentar empfinde ich als recht harsch. Die Erwachsenensicht von "Endlich mal ein Kind, das nicht im Mittelpunkt stehen muss", entspricht ja nicht dem Wesen eines durchschnittlichen Kleinkindes. Die können meist nicht anders, als im Mittelpunkt stehen zu wollen. Und da sie noch lange nicht die Fähigkeit zur bewussten Manipulation besitzen, kann man ihnen das auch schlecht vorwerfen. Es ist schlichtweg normal.

      Ein so ruhiges Kind in den Alter habe ich auch noch nicht im (kleinkindgesättigten) Umfeld erlebt, und ich kann Deine Gedanken nachvollziehen, Annika. Mich rührt Deine Beschreibung sehr an. Vor allem, dass die Mutter das Kind quasi ignoriert hat, kommt mir ausgesprochen merkwürdig-traurig vor. Es mag aber auch Kinder geben, die sehr selbstversunken sind. Ich war als Kind selbst so ein Kaliber, aber mir hat man das auch zusätzlich ganz schön eingebimst.

      Schade finde ich, dass Kinder in den Augen der "Öffentlichkeit" am besten gelitten sind, wenn sie nicht auffallen. Bloß nicht laut sein, nicht im Supermarkt rumstressen, andere nicht in ihrem Komfort beeinträchtigen, nicht trödeln. Manchmal ist das auch mit alten Menschen so, die in der Bahn oder im Laden irgendwie den Verkehr aufhalten und dann entnervte Blicke ernten. Das finde ich Scheiße, denn der Korridor gesellschaftlicher Akzeptanz verengt sich so auf den normalfunktionierenden Erwachsenen. Und ja, ich formuliere das jetzt absichtlich so spitz.

      War mir jetzt wichtig, musste ich sagen. Danke für Deinen besonderen Blick, Annika.

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    3. Allerliebsten Dank für diesen Kommentar, liebes Schattentier. Du sprichst mir aus der Seele.

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    4. Ich finde es einfach so schade, dass man als Mensch anscheinend immer funktionieren soll, damit keiner genervt ist. Wenn man sehr jung oder sehr alt ist oder eine Behinderung hat oder sonstwelche Probleme, funktioniert man eben manchmal nicht im herkömmlichen Sinn. Das muss eine Gesellschaft aushalten können.

      Ich muss zugeben, dass ich auch manchmal genervt bin von Kindern oder Alten oder sonstwie auffälligen Leuten. Solange mir keiner ans Leder will, rufe ich mich aber innerlich zur Ordnung. Weil ich umgekehrt ja auch das Recht haben will, aus der Reihe zu fallen.

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  2. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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    1. Lies dir deine Sätze noch mal genau durch und dann denk mal nach.

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  3. Mich beschäftigt so ein kindliches "Bravsein" auch sehr. Da bin ich doch richtig froh, wenn die ewig mit dem Handy beschäftigten Mütter plötzlich ein schreiendes Kind haben. Das Kind verliert sein Stofftier aus dem Kinderwagen, oder den Schnuller - die Mutter läuft blind weiter.
    So kleine Kinder brauchen Aufmerksamkeit, ein paar Worte zwischendrin, ein liebevoller Blickkontakt, ein Bilderbuch reichen... Ich finde dieses Verhalten lieblos.

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    1. Ja, wenn es wenigstens ein Bilderbuch gehabt hätte. Aber es wurde unter den Tisch gesetzt, da blieb es sitzen und schaute. So zwei bis dreijährige haben doch Bewegungsdrang, und zwar ohne, dass sie Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen.

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  4. Kinder leben in ihrer eigenen Welt, schwierig manchmal dahinter zu blicken und ihr Verhalten zu interpretieren. Selbst dass die Mutter in einer Stunde kein einziges Mal zu ihrem Kind rüber- oder runterschaut, klingt zwar zunächst ziemlich kaputt, kann aber auch, wie Annika schreibt, das Ergebnis einer "scheinbar völlig natürlichen Interaktion zwischen den beiden" sein. Insgesamt hätte ich mir von diesem kleinen Schauspiel gerne selbst ein Bild gemacht, so spannend klingt die Schilderung. Und ich sitze äußerst ungern beim Frisör. Und dann noch eine Stunde lang! Ich werde wahnsinnig!

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    1. Ich fand es auch sehr schwierig, zu interpretieren, aus welchen Gründen sich Mutter und Kind so verhalten. Und dass es mich so berührt hat, verrät im Grunde mehr über mich selbst, als über die beobachtete Situation.

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  5. Liebe Annika, ich kann Deine Gedanken ein Stück weit nachvollziehen. Vielleicht jetzt nicht gleich bis in Richtung des Jugendamtes (dazu weiß man ja viel zu wenig über die Familie) - aber unabhängig vom Verhalten des Kindes kann ich persönlich mir eben auch so gar nicht vorstellen, eine ganze Stunde lang mein Kind bei mir zu haben, ohne - wenn auch nur kurz - mal mit ihm zu sprechen, mich mit ihm zu befassen. Das muss man ja nicht pausenlos, aber so... gar nicht? Nicht mal am Ende, wenn man es an die Hand nimmt, um wohin auch immer zu gehen?
    Deshalb verurteile ich die Mutter nicht - aber es wär auch mir aufgefallen. Vielleicht, weil meine Kinder anders waren. Vielleicht, weil ich selber anders mit meinen Kindern umging.

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    1. Nun ja, das Jugendamt.... zur Veranschaulichung übertreibe ich stets, das dürfte keine Neuigkeit sein.

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  6. Meine Liebe, da ich es ja immer genau wissen will, habe ich meine "Dienstälteste Freundin", gelernte Erzieherin, gefragt, was von einem derart stillen Kind zu halten ist. Ihre Reaktion: Endlich mal ein entspanntes Kind!!!!!! Sie führte dann noch weiter aus, endlich mal ein Kind, das nicht in jede Situation reinplatzen muss, das nicht ständig Aufmerksamkeit benötigt und nicht andauernd betüddelt werden muss. Kurzum, wenn ich meine "Dienstälteste" richtig verstanden habe, ein Kind, das sich seiner Mutter und deren Liebe so gewiss ist, dass es nicht ständig Beweise braucht. Und eine Mutter, die ihrem Kind vertraut und zutraut, sich schon zu melden, wenn was ist. :o)

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    1. Das ist mir die Liebste aller möglichen Interpretationen!

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    2. Das wäre sie für mich auch - insbesondere der letzte Satz.
      Daran zu glauben, fällt mir dennoch irgendwie schwer ;) Ich muss mal meine Mama fragen, die war ja auch Erzieherin. Würd mich interessieren, was die dazu sagt. Das schreib ich Dir dann mal woanders :)

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  7. Hart. Und sehr traurig zu lesen.

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