Sonntag, 14. Oktober 2018

Wenn alte Männer aktiv werden

Ich weiß ja nicht, was ich so mache, wenn ich ganz alt bin. Ob dann meine Schrulligkeiten ein ähnlich bemerkenswertes Ausmaß annehmen wie bei meinem Nachbarn.

Es wohnt ein schwules Pärchen, beide um die 70, seit Menschengedenken hier im Haus. Der eine hat - seitdem ich hier lebe - noch nie das Haus verlassen. Der andere raunt jedem neuen Mieter zu, dass hier schreckliche Verhältnisse zu beklagen seien, weshalb man schon des öfteren die Gerichte zu Rate ziehen musste. Soweit, so unauffällig.

Der, der das Haus verlässt, schleppt jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe vom ReWe Weinflaschen in größeren Mengen an. Aber nicht für sich, sondern für den zur Randale neigenden Lebensgefährten, um ihn ruhig zu stellen, nehme ich an. Einmal nämlich hatte er doch seine Wohnung verlassen, sturztrunken lag er in Unterwäsche vor der Tür meiner Nachbarin und verlangte lauthals nach Einlass. Er hatte sich aber nur im Hausflur verirrt.

Er (also der Einkaufende) macht immer einen sehr distinguierten Eindruck und da beide Herren schon etwas schwerhörig sind, beschallen sie die nähere Umgebung mit meist schwerer Kost aus ihrer Klassiksammlung oder der Fernseher scheppert laut bis in den Garten hinein - was mich bekanntlich nicht mehr stört, da ich den Garten nicht mehr betreten darf. 

Der, der nie das Haus verlässt und den man nur sieht, wenn man im Garten sitzt, weil er dann in weißer Unterwäsche auf dem Balkon sitzt, was ich aber nun auch nicht mehr sehen muss, der jedenfalls spricht auch nicht. In den ersten Jahren schickte ich mal ein "Guten Tag" in Richtung Balkon, aber das wurde mit unverwandt starrem Blick und eisigem Schweigen retourniert. 

Nun hielt vor einigen Wochen ein Kankenwagen vor der Tür und der stumme Teil des Paares wurde abtransportiert. Kein Wunder bei der Hitze - in jenen kochendheißen Tagen, an denen man sich freute, wenn es gegen 22 Uhr nur noch 32 Grad waren, begegneten einem nachts auf dem Heimweg über Gebühr viele Krankenwagen. 

Wider Erwarten machte er aber nicht final schlapp, sondern kehrte wieder zurück. Wider Erwarten deshalb, weil sein Gefährte mir hoffnungsfroh zugeraunt hatte, dass es so nicht weiter gehen kann und dass er wohl ein Heimplatz für ihn suchen müsse.

Seitdem der unsichtbare Schweiger zurückgekehrt ist, passieren die erstaunlichsten Dinge.

Zunächst mal liegen jetzt täglich Kondome vor unserer Haustür. Keine benutzten, sondern originalverpackt. Er wirft sie aus dem Küchenfenster. Sein Partner kauft also nicht nur schwere Weinflaschen, sondern auch Kondome und ich bin nicht so sehr erstaunt, dass sich die beiden auch im hohen Alter miteinander vergnügen, sondern vor allem darüber, dass sie es safe tun. 

Andererseits: er schmeißt die Kondome ja zum Fenster raus, anstatt sie zu benutzen. Womöglich eine Variante von "Ich hab Kopfschmerzen". Stattdessen: "Otto, es geht nicht, die Kondome sind alle." Ich mein ja nur. Kommt man ja ins assoziieren, wenn unsereiner beim Fahrrad anschließen mit Kondomen beworfen wird. Manchmal wirft er auch Leberwurst und andere Lebensmittel runter. Er hat wohl wenig Lust, den Mülleimer zu benutzen.

Vorige Woche Premiere: Erstkontakt nach 10 Jahren Nachbarschaft. Der Schweiger lehnt sich aus dem Küchenfenster und schaut mir zu, wie ich den Abfall rausbringe. Plötzlich: 

"Frau Annika?" 
Ich denk, wie, der kennt meinen Namen? Ich schau nach oben.
"Ja?"
"Brauchen Sie einen Kalender?"
"Nein, danke"

Dennoch greift er hinter sich und hält triumphierend einen großen Kalender mit einem nackten Mann vorne drauf aus dem Fenster. Dann lacht er boshaft und meint wahrscheinlich, er hätte mich jetzt traumatisiert mit seinem Coming out.

Heute komme ich nach Hause, schließe mein Rad an, hinter mir pladdert es auf einmal. Ich schau nach oben, frage, "Was machen Sie denn da?" Er hat eine 10 Liter Gießkanne in der Hand und lässt Wasser auf das Fensterbrett laufen. "Ich mach sauber"

Jetzt wird er mir doch sympathisch, denn ich erkenne den Akt des Widerstands. Da wurde doch unser Haus erst kürzlich rundherum ausgehoben, trockengelegt, mit schwarzer Farbe gestrichen, Kieselsteine obendruff und die Farbe wurde sogar mit schwarzen Bohlen verkleidet. Sieht die Bretterbude doch gleich ein bissel schicker aus. 

Und er, der renitente Schweiger bewässert von oben umfassend und ausdauernd das Gebiet vor seinem Küchenfenster. Als ich genauer hinsehe, sehe ich, dass er das mehrmals täglich machen muss, es ist bereits alles nachhaltig feucht. Wahrscheinlich ist der Keller, wenn nicht überschwemmt, so doch mit jeder Menge neuer Schimmelsporen versorgt. 

Er hat eine Mission, das spürt man. Wahrscheinlich ist er sauer, weil ich nicht mehr in den Garten darf und er niemanden mehr hat, den er ignorieren kann. Der Krankenhausaufenthalt muss ihm neuen Lebensmut gegeben haben.


17 Kommentare:

  1. Ich sollte vielleicht Sachen vom Balkon werfen, wenn mich das sympathischer macht.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Direkt Sympathien erwirbt man sich nicht damit. Einzig der Fakt, dass er dem doofen Vermieter eins auszuwischen versucht, wärmt mein geschundenes Gartenherz...

      Löschen
  2. Man erfährt immer wieder, das der liebe Gott über einen großen Tierpark verfügt.

    Wieso darfst Du nicht in der Garten, hab ich was verpasst?

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. https://annikahansen7.blogspot.com/2018/04/er-hat-schluss-gemacht.html

      Löschen
  3. Da kommt mein alter Traum von einem Dreiseitbauernhof wieder hoch. Mitten im Acker stehend und mindestens 500 Meter Abstand zur Zivilisation.

    AntwortenLöschen
  4. Könnte er dich nicht auch ignorieren, wenn er dich gar nicht sehen kann? Oder ist das ein Fall von: Ein Baum fällt im Wald um und macht kein Geräusch, wenn niemand da ist, um es zu hören?
    Wunderbare Geschichte!

    AntwortenLöschen
  5. Ich dachte immer, alte, wütende, heterosexuelle weiße Männer seien die Wurzel wirklich allen erdenklichen Übels auf der Welt. Mein Weltbild hat einen Knacks.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Unter allen Sorten von Menschen gibt es schlimme Exemplare.

      Löschen
  6. Antworten
    1. Inzwischen nicht mehr. Hat mein Leben ganz schön umgekrempelt. Du meine Güte, was bin ich rumgekommen in diesem Sommer.

      Löschen
  7. Kondome auspacken und Gummischiessen durch`s Küchenfenster spielen ;-)

    AntwortenLöschen
  8. Ein renitenter Alter, herrlich, solange sich sein Widerstand nicht gegen deine Anwesenheit richtet, perfekt.
    Das mit dem Grüßen erinnert mich an das Paar links versetzt über mir. Ich kannte (Ausnahme) ihren Namen, grüßte auch höflich, wurde von ihr aber dauerhaft ignoriert. Ihr Mann, ein zauberhafter Mensch, hingegen grüßte immer. Sie fehlen mir, seit Frühjahr war die Wohnung plötzlich verweist, denn erst war sie dauerhaft erkrankt und dann er wohl auch und sie leben wohl jetzt im Pflegeheim.
    Ich kann sie nur "oberhalb" der Balkonbrüstung, denn gefühlt verbrachte sie die meiste Zeit des Frühjahrs/Sommers kurzum um, immer wenn es das Wetter zuließ, auf ihrem Balkon. Dort saß sie, hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen und soweit ich sehen konnte, tat sie das im Unterhemd......als sie mir irgendwann einmal aufgetakelt (mit Ketten behangen und unordentlichem Lippenstift) auf der Straße begegnete, hab ich sie kaum erkannt, aber natürlich hat sie mich auch dort ignoriert. Vielleicht war ich ihr zu gewöhnlich, lach. Jedenfalls erinnerte mich das Paar immer an Statler und Waldorf, wenn sie sich auch nicht so "beharkt" haben. Sie las ihm aus der Zeitung vor und wenn er sich in ihren Augen daneben benahm, grollte sie ihm mit einem langezogenen Joooooonnnnnie (aber nicht englisch ausgesprochen, bitte!). Es war wie heimkino.
    Jetzt wohnt meint Kind seit einem Monat in genau dieser Wohnung, wer hätte das mal gedacht...aber soviel Unterhaltung gibt es jetzt nicht mehr, was haben Kind und ich über die beiden gelacht...

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Sie hat bestimmt gedacht, du machst ihr den Gatten abspenstig.
      Ach, und jetzt wohnt das Kind dort? Sehr nah, gell?

      Löschen
  9. Ja, aber ich find es gut. Wir sehen uns deswegen ja trotzdem nicht häufig. Aber wenn mal wer nach den Katzen sehen soll, ist das sehr angenehm! Und schöner wohnen tut sie jetzt auch ;o) ist ein bissl größer als das vorher

    AntwortenLöschen