Mittwoch, 14. Juni 2017

Roman einer versunkenen Firma III


Anruf bei der alten Prokuristin vom alten Robert. Schon wieder eine traurige Nachricht. 


Eine sehr liebe, ehemalige Kollegin ist viel zu früh verstorben. Eine Frau, die von einer Seelenruhe war, die ihresgleichen suchte. Nur in ganz seltenen Fällen wurde sie deutlich. "Nee, Fatma", sagte sie zur Putzfrau, "Es ist überhaupt nicht wichtig, dass dein Enkelkind hübsch angezogen wird, sondern dass es Abitur macht." 

Allen Widrigkeiten des Lebens begegnete sie mit Gleichmut, so auch ihren schwarz behaarten Beinen, die sie in schimmernden Strümpfen von Wolford zur Geltung brachte. Als ihre demente Mutter ins Pflegeheim kam, berichtete sie, dass diese dort erfreulicherweise auflebt und ihr nun immer berichtet, dass sie noch auf Dieter wartet, damit sie die Rechnungen prüfen können. "Sie hat jetzt wieder zu tun, das ist doch schön."

Als ihr Mann innert vier Wochen verstarb, kam sie unbeirrt zu unserem halbjährlichen Veteranen-Abteilungstreffen und als wir wissen wollten, wie er damit klar gekommen ist, dass er von der Diagnose ab nur noch wenige Zeit hatte, die ihm verblieb, meinte sie "Keine Ahnung. Ich wusste ja nicht, ob er darüber reden wollte. Da habe ich ihn natürlich nicht gefragt." Da habe ich zum ersten Mal gedacht, ob ihr Gleichmut nicht vielleicht eher ein Hinweis auf fehlende Empathie ist, getarnt mit allzeit guter Laune. Das weiter zu vertiefen ist mir nicht vergönnt. 

Zurück zur Prokuristin. Sie ist 80 geworden im Mai und schon bei Roberts Beerdigung ist mir aufgefallen, dass sie ein klein wenig desorientiert wirkte. Sie war eine echte "Erste Sortimenterin", die Letzte ihrer Art, wie es im klassischen Uhlig beschrieben ist. Hart aber gerecht, vital, ausgesucht gekleidet, mit geschmackvollem Schmuck behangen, einer fürchterlichen Helmfrisur, egoman und sich für mütterlich haltend. 

Ihr Mann, ein Biologe, hatte ihr offenbar die wichtigsten Dinge des Lebens verschwiegen, denn als die Schwangerschaft einer Kollegin besprochen wurde, überraschte sie uns mit der Neuigkeit, dass das Baby im Mutterleib mit der Nabelschnur verbunden sei (soweit so gut), von der Plazenta allerdings direkt mit dem Mund. Mit allem gebotenem Respekt erklärten wir ihr den Sinn eines Bauchnabels.

Frau M., ich bin's. Leider habe ich schon wieder eine traurige Nachricht. Frau K. ist verstorben.

Ach, wie schade. Wie alt ist sie geworden?

Gerade mal 73. Kein Alter. Die Beerdigung ist dort und dort und dann und dann.

Da kann ich nicht hingehen. Mein Blutdruck, da weiß ich nie, wie es mir geht.

Verstehe.

Wie alt sind Sie denn eigentlich jetzt?

(Beliebige Zahl zwischen 0 und 99 eintragen)

Sie sind ja noch so jung!

Naja, aus Ihrer Warte würde ich das auch denken. 

Ich kann eins nicht verstehen. Dass ich schon 80 bin. Mit wem haben Sie denn noch Kontakt so?

(Aufzählung einiger Namen folgt)

Ach, das sind ja nicht so viele. Und wie alt sind Sie eigentlich?

(Beliebige Zahl zwischen 0 und 99 eintragen)

Da sind Sie ja auch nicht mehr die Jüngste.

Wem sagen Sie das!

Und wie alt war Frau K.?

73.

Ach, und was ich noch fragen wollte: mit wem haben Sie noch Kontakt so?

 (Aufzählung einiger Namen folgt)

Ach, das sind ja eine ganze Menge. Und sagen Sie, wie alt sind Sie eigentlich?


(Beliebige Zahl zwischen 0 und 99 eintragen)

So jung wäre ich auch noch mal gerne. Und? Mit wem haben Sie noch so Kontakt?

 *

Vorsichtig bringe ich das Telefonat zu Ende. Sicher unser letztes. Beim nächsten Mal wird sie so verzaubert sein, dass sie kaum noch wissen wird, wer ich bin.

*

Roman einer versunkenen Firma I
Roman einer versunkenen Firma II

4 Kommentare:

  1. Solche Erlebnisse finde ich immer irgendwie so ernüchternd.

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    1. Mir wird eher melancholisch zumute.

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    2. So geht's mir auch. Also das mit der Melancholie. Keiner wird dieses Leben überleben.

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    3. Und das werde ich nie akzeptieren

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