Montag, 3. Dezember 2018

Görlitz Görls

Ich hatte mir immer schon mal gewünscht, mit einer Horde übermütiger Bayer-Uerdingen Fans im Regio nach Cottbus zu sitzen, von der Polizei in die Bahnhofshalle eskortiert zu werden und von lauten Gesängen einen Hörsturz zu erleiden. 

Natürlich hatten wir nicht vor, dem Fußballgott zu huldigen, sondern mit einem Aufenthalt von 4 Minuten direkt weiter nach Görlitz zu fahren. Leider hielt der Zug 3 Minuten vor Ankunft in Cottbus auf freier Strecke, was uns einen einstündigen Aufenthalt im Cottbusser Bahnhof bescherte, inmitten von Polizisten und Gegröle, bevor wir weiterfahren konnten. 

Der Weg ist das Ziel, wiederholte ich wie ein Mantra. Auch als ich vor dem einzigen Bahnhofsklo in einer riesigen Schlange stand und eine widerlich erkältete Frau mir derart auf den Pelz rückte, dass ich sie beinah niedergeschlagen habe. Ging aber nicht, wegen der vielen Polizei.

Bei lausigen Temperaturen und eisigem Ostwind kamen wir in Görlitz an und liefen drei Stunden über den Weihnachtsmarkt. Nun stellt man sich das im Sommer immer so herrlich vor, lasst uns nach Görlitz fahren, da ist der Weihnachtsmarkt besonders schön, und dann stellt sich am Ende doch nur wieder heraus: Kennste einen, kennste alle. Laaangweilig. Ich habe nichts gekauft, außer Zigaretten im polnischen Teil der Stadt. So gesehen eine erfolgreiche Städtereise.

Aber die Häuser. Nun ja, eins schöner als das andere. Aber erschreckend: nirgendwo Licht in die Fenstern. Da wohnt nämlich niemand mehr. Man kann dort 120 qm Altbauwohnungen mit Terasse für 600 € warm mieten, aber das will wohl keiner. Eine Tragödie, wenn man mich fragt. Und anderswo werden Turnhallen vollgepfercht. Ein Irrsinn. 


3 Zi, EBK, Balkon, 350 € warm

Und es wurde noch tragischer: um 18 Uhr hatten wir den Weihnachtsmarkt abgegrast und wollten nun in der Nähe des Hotels noch einen Kaffee trinken, aber ab 18 Uhr werden die Fußgängerwege hochgeklappt. Gähnende Leere nunmehr auf den Straßen, nur die überall in der Stadt aufgehängten riesigen Huttenreuter Sterne verströmten ihr warmes Licht.

Was macht man an einem Samstagabend in einer fremden Stadt, wenn alles zu hat? Wieder zurück auf den Weihnachtsmarkt und darauf hoffen, dass dort in der Nähe noch ein Lokal auf hat? Das ging nicht, wir wollten keinen Ermüdungsbruch in unseren zarten Fersen riskieren, denn die ganze Stadt besteht aus Kopfsteinpflaster. 

Vor allem für mich ein Graus, denn das Grüppchen schlenderte derart langsam durch die Gassen, dass es mich halb verrückt machte, denn unterdessen bin ich nur noch 5 Kilo von meinem Idealgewicht entfernt und bewege mich seit Wochen vorzugsweise raschen Schrittes durch die Stadt. Ich bin inzwischen so schnell wie der Wind und wenn ich mich langsamer bewegen muss, wird mir sofort kalt, da hilft auch der wärmste Mantel nebst dämlicher Mütze nix. Bin mal gespannt, ob ich demnächst endlich mal ein Hutgesicht bekomme. Wenn man mich aus der Ferne fotografiert, sieht es schon gar nicht mehr so schlimm aus, immerhin.

Anyway, was blieb uns übrig? Kino, natürlich, what else? Das hatte Gottseidank noch auf. Und dafür fährt man nun mit dem Wochenendticket durch die Republik und wird von aufdringlichen Menschen angehustet.

Am nächsten Tag den ganzen Weg noch mal, aber diesmal über die Südstadt, unten an der Neiße entlang. Schön war, dass es hell war und wir mal alles sehen konnten. Aber mein Grüppchen schlenderte weiter lahmarschig am Ufer entlang und machte pausenlos Selfis, wofür sie sogar stehen blieben - ich fror und fror vor mich hin. Ich machte nur künstlerisch wertvolle Landschaftsfotos, ich weiß ja hinlänglich, wie ich aussehe. 

Kaum saßen wir im Zug zurück nach Berlin, da fing es auch schon an zu schütten und wir lobten das Wetter, dass es bis dahin sehr gut gemeint hatte. Im Überschwang wurde beschlossen, dass wir das jetzt jedes Jahr machen: einen Weihnachtsmarktbummel in einer anderen Stadt. 

Ich hoffe mal, es gibt noch genug Weihnachtsmarkt-Städte an der polnischen Grenze, damit ich wenigstens an frische Zigaretten komme. 


8 Kommentare:

  1. So ein Hutgesicht ist sicher eine feine Sache.

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    1. Unbedingt, was einem da für Möglichkeiten offen stehen...

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  2. Was für ein herrlich missgelaunter Blogeintrag.

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    1. Ich war ganz erschrocken über mich, denn in Wahrheit war es natürlich sehr vergnüglich.

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  3. Ich glaube, in Görlitz wohnte eine leider schon verstorbener Kollege, bis es ihn zu uns verschlug. Ich meine, er berichtete irgendwann mal, dass sein Haus dem Erdboden gleichgemacht wurde, wie auch die Häuser anderer...Es hörte sich jedenfalls sehr trostlos an. Andererseits wurden aber auch schon Filme dort gedreht, wenn ich nicht irre? Und eine wirklich alte Altstadt ist immer interessant. Kopfsteinpflaster weniger, das haben wir hier auf dem Markt nämlich ebenfalls. Gottlob streuen sie Tonnen von Holzschnitzeln auf den Boden, wenn der Weihnachtsmarkt beginnt, man kann auf diesen Böden einfach kaum gehen ohne akute Beschwerden zu bekommen.......
    Also nächstes Mal: Weihnachtsmarkt bei uns, klein aber niedlich!!!!!! Und Strand in der Nähe! Komm schon!!!

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    1. Das hört sich sehr verlockend an. Ich werds vorschlagen.

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  4. Ich glaube ich drucke den Satz "Ich machte nur künstlerisch wertvolle Landschaftsfotos, ich weiß ja hinlänglich, wie ich aussehe." aus, rahme in ein, und hänge in an die Wand.
    Dank für jeden neuen Eintrag hier sagt
    Uli

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