Samstag, 3. Oktober 2015

Aus dem Leben einer Hypochonderin

Auch dem oberflächlichen Leser wird nicht entgangen sein, dass ich zur Hypochondrie neige. Ich erwähne das öfter, so selbstironisch wie möglich, aber natürlich ist es im wahren Leben gar nicht soo witzig, bei jedem Zwicken sicher zu sein, dass die noch verbleibende Lebenszeit so überschaubar scheint, dass es sich nicht mehr lohnt, ein Brot zu kaufen. Den Kauf eines Wintermantels halte ich in Krisensituationen gar für eine tollkühne Unternehmung, was auch daran liegt, dass mir jede Kraft dafür fehlt. Totgeweihte gehen nicht shoppen.

Eine Typologie

Typ 1 macht sich auch dann  Gedanken, wenn nichts zwickt und geht zur Sicherheit mehrmals täglich zum Arzt. Er verlässt die Praxis mit der Erkenntnis, dass er einem unfähigem Quacksalber aufgesessen ist und stürmt umgehend die nächste Praxis. 

Typ 2 verschwendet wenig Gedanken an Krankheiten und geht nie zum Arzt. Aber wenn was zwackt, ist es immer tödlich. Wenn er einen Arzt aufsucht, hält er ihn für eine Koryphäe; vor allem dann, wenn 'nichts ist'. Er hüpft um 20 Jahre verjüngt aus der Praxis, was aber nichts bringt, denn zuvor ist er um 20 Jahre gealtert. 
 
Krisensituationen

Bei  Kopfschmerzen kann nur ein Tumor dahinter stecken, inoperabel natürlich. Rückenschmerzen? Es droht ein Herzinfarkt oder Knochenkrebs. Schwindel? Sofort lächeln und Füße und Hände bewegen - geht das nicht, hat man einen Schlaganfall. Hände Kribbeln? Multiple Sklerose. Erzählen mir andere von Symptomen, unter denen sie leiden, habe ich sie 24 Stunden später auch. 

Besondere Befähigungen

Ich habe ein phänomenales Gedächtnis für alles, was mit Krankheiten zu tun hat. Was auch immer ich am Rande aufschnappe, es bleibt für alle Ewigkeit meinem Gedächtnis, jederzeit abrufbar. Daher bin ich auch eine sehr gute Diagnostikerin. Mir fehlt im Grunde nur die Approbation, um als Expertin das Team von Dr. House zu bereichern.


Literatur

Natürlich bin ich im Besitz von Sekundärliteratur. Damit meine ich jedoch nicht den Pschyrembel oder Sobottas Atlas der Anatomie. Ich google auch nicht nach Krankheiten. Davon bekomme ich eine Posttraumatische Belastungsstörung. Sondern Bücher von anderen Hypochondern. Da gibt es wunderbare Sachen von Seelenverwandten, die ähnlich wie ich, adrenalingeflutet ihr Leben meistern müssen.

Der Arztbesuch

Kürzlich hatte ich doch diese komische Allergie im Gesicht, die mich zum Arzt trieb, obwohl ich zu Typ 2 gehöre. Er verdonnerte mich zu einem Check up inkl. Belastungs-EKG. Seitdem ist die Hölle los.

Zunächst mal zähle ich die Tage bis zur Untersuchung und rechne mir aus, was ich mit der sofortigen Umsetzung eines gesunden Lebensstils noch reißen kann. In meinem Fall fahre ich wie eine Besengte Rad. Ich will ja auf diesem Ergometer-Dingens nicht ohnmächtig runterfallen. Also brauche ich Training. Ich werde auch zum Termin radeln, 15 Kilometer, dann bin ich fit und werde auf diesem Dings bella figura machen. Außerdem schlafe ich schon jetzt nicht mehr so gut. Ich habe Alpträume. Letzte Nacht bekam ich die Diagnose Hautkrebs, war das eine Erleichterung, als ich um drei Uhr morgens aufwachte. 

Insgesamt fühle ich mich schwächlich, zitterig und aus der Balance. Prophylaktisch. Angst ist so anstrengend. Schon eine Blutabnahme wirft mich aus der Bahn. Ich kann das nur liegend überstehen, weil ich sonst umkippe. Dann steigt die Angst ins Unermessliche: was dabei alles rauskommen kann! Die Tage bis zum Ergebnis sind eine Tortur. Und wenn ich dann vorm Arzt sitze, leichenblass und mit wirrem Haar, entnehme ich seiner Miene, dass es schlecht um mich steht. Dabei ist es egal, ob er lächelt oder ernst guckt. 

Wenn Ärzte anrufen

Einmal hat mich ein Arzt im Büro angerufen, mitten während eines Meetings. Jeder weiß, wenn einem der Arzt hinterher telefoniert, wird's hohe Zeit, seine Angelegenheiten zu regeln. Ich weiß nicht, wie ich die Besprechung überstanden habe. Als ich ihn zurückrief und mich dabei mehrmals verwählte, weil meine Hände so zitterten, sagte er "Ich wollte nur fragen, ob du am Samstag zum Grillen kommst." Es hat auch Nachteile, wenn der Arzt mein Schwager ist.

Andere Menschen gehen einfach so zu einem Check up, bleiben gelassen, arbeitsfähig und schlafen auch in der Nacht vor dem Arztbesuch tief und traumlos. Wie schaffen die das nur?

9 Kommentare:

  1. Vorgestern Abend stand der Hausarzt von Junior I vor der Haustür (!). Nachdem mein Sohn perplex fragte, was denn los sei, meinte der: "Sie könnten ja einfach auch mal nur an Ihr Handy gehen. Ich muss Ihnen nämlich noch sagen, dass Sie nur die halbe der neuen Tabletten nehmen müssen." Sprachs und ging wieder.
    Ich kenne einige engagierte Leute. Aber DAS habe selbst ich noch nicht erlebt ;)
    Ich frage mich gerade, wie es Dir wohl ergangen wäre, stünde Dein Hausarzt vor der Tür?

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    1. Ich würde tot umfallen :)

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    2. Ich würde denken "Oh, bin ich schon tot?!"

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    3. Geboren als Typ 1, gehöre ich nun, nach jahrelangem Anti-Hypochonder-Training zu Typ 2.
      Bin aber den Hypochonderstatus fast losgeworden, seit ich im letzten Sommer untenrum aufgeschlitzt, während obenrum hellwach, auf einem OP-Tisch lag - und das Ganze ÜBERLEBTE!
      Probier's doch auch mal mit 'nem Kaiserschnitt - wirkt wahre Wunder :-)

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    4. Ja, wenn's einen mal so richtig erwischt, das ruckelt einiges zurecht. Da ist man zu 70% spontan geheilt. Aber eins weiß ich: einen Kaiserschnitt bei Bewusstsein hätte ich nie überlebt. Jede Frau, die das übersteht, ist eine Heldin.

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  2. Genau so ist das!
    Was muss man leiden, wenn man meint ein Leiden zu haben.
    Ich kenne das so gut.

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    1. Und dann weißt du ja auch, dass ich noch untertrieben habe...

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  3. Als Lieblingshypochonder meines Hausarztes verlasse ich zufrieden die Praxis. Er meinte: "Sie leiden an chronischer Differenzialdiagnose!" Prima, hört sich an wie "schlimmes Leiden", damit kann ich als unheilbar Gesunder zumindest andere beeindrucken.

    Auf meine laienhafte Nachfrage, ob es sich wohl um eine seltene Krankheit handelt, meinte er: "Da kan ich Sie beruhigen, die Friedhöfe liegen voll davon."

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    1. Oh, ein Seelenverwandter! Chronische Differenzialdiagnose. Schön.

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