Freitag, 26. Juni 2015

Ungeschminkt ganz oben

Morgens ist gleich was schief gelaufen. Bei all dem Gesuche nach Klamotten, in denen ich mich am Abend nicht underdressed fühlen sollte, lief mir das Zeitmanagement aus dem Ruder. Gesicht malen ging nicht mehr, macht nix, dachte ich, hab ja auch alles in der Tasche. Hatte ich aber nicht. Anfängerfehler. Wechselt man die Taschen, muss auch der Inhalt mit.

Da stand ich nun im Büro und überlegte, den Abendtermin abzusagen. Aber geziemt sich das für eine erwachsene Frau? Eine Verabredung abzusagen, weil keine Schminke da ist? Ein berühmter Modeschöpfer hat den Heroin-Look erfunden, als er mich ungeschminkt an der Mülltonne gesehen hat. Kommt es nicht viel mehr auf innere Werte an? Und wird meine Begleitung, eine Frau von Format und Grandezza, nicht genügend von mir ablenken, bzw. eine ausreichend narzisstische Verlängerung sein?

Meine Freundin ist in gewisser Hinsicht ein Problembär. Egal, wo sie hingeht, sie ist immer sie selbst. Ich hingegen bin ein Chamäleon, kann mich meiner Umgebung bis zur Unkenntlichkeit anpassen. Fehlende Ich-Identifikation. Das kommt von meiner schweren Kindheit in Niedersachsen. Ich wäre ja manchmal lieber wie sie. Wir waren zwar nicht direkt bei der Queen eingeladen, aber so ähnlich. Sommerfest in einer Kanzlei, da laufen im Prinzip 200 ausgesucht gewandete Könige herum. Männer, denen ich höchstens freundlich zunicke, aber die ich niemals ansprechen würde, außer "Pardon, darf ich mal an Ihnen vorbei?".

Sie ist da ganz anders. Als wir auf der Terasse ankommen, geht sie stracks auf zwei Herren zu, die lässig am Geländer lehnen "Darf ich da mal hin?", quetscht sich zwischen sie und schaut mich auffordernd an. "Na, komm doch her." - "Aber da stehen doch..." - "Ach, die sind doch viel größer als wir, die können doch über uns hinweg die schöne Aussicht genießen." Sie zieht mich zu sich heran und ich denke, dass es immer wieder eine Mutprobe ist, sie mitzunehmen. 


Sie mischt auch sonst gleich den Laden auf, denn das Flying Buffet fliegt in erster Linie an uns vorbei; die Kellner balancieren das Tablett mit ausgestrecktem Arm hoch über ihre Köpfe an uns vorbei - man muss ihnen schon ein Bein stellen, um nicht zu verhungern. Nur der Champagner wird in Strömen nachgegossen, was mir persönlich nichts nutzt, ich trinke nur Wasser, wegen meines japanischen Gens.

Meine Freundin schließt Freundschaft mit den Champagnermädchen und animiert sie, die Kellner mit den Häppchen direkt zu uns zu schicken. Nachdem sie cirka fünf Mädchen eindringlich über unsere Hungersnot in Kenntnis gesetzt hat, läuft es ein bißchen besser und ich halte mein ungeschminktes Gesicht in Richtung Französischer Dom. Ich denke, sie lenkt genügend von mir ab. Außerdem bin ich ihr sehr dankbar, denn sie organisiert zwei Barhocker für uns. Der Abend läuft wie geschmiert, die Luft ist lau, die Aussicht herrlich. 


Am Ende coacht sie den Koch, der an einer festen Station irgendwelche Knödel serviert und ihr anvertraut, wie sehr er unter seinem Job leidet. Kein Wunder, sagt sie mir, Köche koksen den ganzen Tag und in der Küche hat man immer nasse Füße und wird stets angebrüllt. Nachdem der junge Mann ausreichend therapiert ist, gehen wir und ich bin wieder erstaunt, wieviel Leben auf der Straße ist und fahre ein bißchen wehmütig zurück in mein 'Grab im Grünen'.Schon sehr still hier.

6 Kommentare:

  1. Respekt!! Nie! Niemals wäre ich ungeschminkt auf eine Abendveranstaltung gegangen. Ungeschminkt gehe ich nirgendwohin. Hab auch immer ein mit Utensilien gefülltes Notfalltäschchen im Schrank auf Arbeit, falls es morgens doch mal knapp wird.
    Ich glaube, ich wäre in der Mittagspause losgezogen, um mich von einer Douglette schminken zu lassen und/oder mich mit Schminkkram einzudecken.

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    1. Ja, das war sportlich. Projekt: ich liebe mich trotzdem :)

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    2. Lach ... scheint die Woche der ungeschminkten Wahrheiten zu sein. Ich war Dienstagabend ungeschminkt unterwegs ... und überlegte ernsthaft, ob ich umstehende Frauen nach Kajal fragen sollte ... so "nackt" fühlte ich mich! Ehm ... hat keiner gemerkt. Und ob ich mit oder ohne Kajal KEINEN Mann kennenlerne, ist dann nachgerade auch egal ;-)
      P.S. Ich hätte auch in der Mittagspause den Drogeriemarkt geentert und Notfallzeugs besorgt ... aber ich war aus Versehen morgens ohne Schminken losgezogen und saß in einer ganztägigen Außerhaus-Veranstaltung ...

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  2. ... japanisches Gen - da spart man viel Geld mit.

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