Donnerstag, 5. Februar 2015

Nackte Nachbarn

Anästhesisten verzeihe ich so einiges. Selbst, wenn sie bei meinem Anblick im OP "Ach du Scheiße!" rufen, was aber nur daran gelegen hat, dass ich die beste Freundin der Schwester seiner Frau war und er es nun mal hasste, Freunde oder Verwandte ins Schlummerland zu schicken, was wunderbar korrespondierte mit seiner zunehmenden Angst, fremde Menschen zu betäuben, überhaupt irgendjemanden zu betäuben, fiel ihm von Tag zu Tag schwerer. (Außerdem sind das hinterher immer die schönsten Erinnerungen "Und dann komme ich in den OP und da ruft jemand 'Ach du Scheiße' und ich dreh mich um und seh in sein entgeistertes Gesicht, ein Träumchen sag ich, und dann sag ich 'Steht's so schlimm um mich?' - "Quatsch, die Galle macht bei uns der Hausmeister, reg dich nicht auf"... aber zurück zum Thema.)

Wenn also jemand Anästhesist ist oder war, es aber durch widrige Umstände geschafft hat, in praktisch jederlei Bezug zur persona non grata zu werden, dann wendet man sich nicht nur mit Grauen ab, sondern ins Grauen mischt sich gewissermaßen eine anerkennende Würdigung seiner von Tragik umflorten Lebensgestaltung. Immerhin war er früher mal Anästhesist. Der, der mich heute früh mit einem lauten Poltern direkt aus dem Bad vor meine Wohnungstür lockte.

Ich putzte mir gerade die Zähne, als es im Hausflur rummste. Ich öffnete erschrocken die Tür und zu meinen Füßen lag der Nachbar, der es geschafft hat, in sieben Jahren kein einziges Wort mit mir zu wechseln, dicht wie eine Haubitze, nur in eine Schießer-Feinripp gekleidet und eine Mülltüte umklammernd, moserte er mich an "MahannsedeDürssu, ssofohd, Dürsssuuuu!" - "Aber, kann ich..." - "Düüüürssuuu!"

Seine Schießer-Feinripp kenne ich, damit sitzt er immer auf dem Balkon und grüßt nicht zurück. Wie eine Sphinx sitzt er in der Sonne, braungebrannt, weißes Haar, stumm, Hass im Blick. Ich habe ihn noch nie auf der Straße oder im Hausflur getroffen. Sein Lebensgefährte redet dafür um so mehr. Jeden neuen Mieter warnt er vor den entsetzlichen Zuständen in unseren Haus und dass es nicht mehr lange dauert bis zu ihrem Auszug, wegen der unzumutbaren Gesamtsituation, von der ich noch nichts gemerkt habe. Meine Vermieter schicken mir zu Weihnachten Briefe mit guten Wünschen für mein berufliches und privates Glück und packen noch Schokolade rein, was ich eher für paradiesisch halte.

Jedenfalls gehorchte ich ihm und schloss die Tür. Er war ja früher mal Anästhesist. Und so ein bißchen Autorität strahlte er immer noch aus, in seinem beklagenswerten Zustand zu meinen Füßen. Ich horchte hinter der Tür und überlegte, die Feuerwehr anzurufen, aber dann krosch sich seine herbeigeeilte bessere Hälfte schon in Rage "Was machst du denn da? Was sind denn das für Zustände hier?" 

Da haben wir's wieder, eine lupenreine Projektion. Ausziehen will er schon, wegen der Umstände. Aber seine Umstände nimmt man eben immer mit.

2 Kommentare:

  1. Dein Nachbar kennt sich ja immer noch gut mit dem Anästhesieren aus, wenn auch nur bei sich selbst ... Ich habe drei Erfahrungen mit dieser Ärzte-Untergruppe. Einer hat meine langjährigste Freundin umgebracht. Ärztlicher Kunstfehler.
    Mein Bild wieder zurechtgerückt hat Maria, eine entzückende Mitvierzigerin, die auch Notarztwagen fährt und im OP ne echt gute Quote hat. Ein Pluspunkt bekommt auch der, der mich vor zwanzig Jahren auf einen Hammertrip geschickt hat, als sich meine vier Weisheitszähne auf einmal entzündet hatten und rausgeklemptnert werden mussten.
    Hätte ich deinen Nachbarn, würde meine Sympathiekurve für diesen Menschenschlag wieder deutlich sinken ...

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  2. Hach nun, ich hoffe mal, er war ein guter Anästhesist und nicht so ein Tölpel wie der, der deine bedauernswerte Freundin in die ewigen Jagdgründe geschickt hat. (Was für ein Alptraum!)

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